Zehn

Im Schritttempo fuhr R.C. durch das offene Tor des Camps. Er schaltete die Wiederholung einer Rush-Limbaugh-Sendung im Radio aus und versuchte seine Umgebung mit fünf hellwachen Sinnen wahrzunehmen. Als er durch die Bäume hindurch die Lichter des Camps sah, hielt er sofort an und teilte Martha O’Brien über Funk mit, dass er angekommen war.

»Bo... was?«, fragte sie.

»Bogue Chitto. Das ist Choctaw-Indianisch für ‹breiter Bach›, wobei die Chickasaw-Indianer das Wort ebenfalls benutzt haben«, erklärte er. Er war stolz auf sein umfassendes Allgemeinwissen.

»Wenn du das sagst, R.C. ... Pass gut auf dich auf«, antwortete Martha.

»Roger.«

R.C. ließ den Streifenwagen ins Camp rollen. Er parkte auf der Schotterfläche, stieg aus und ging auf das Clubhaus zu. Mit seiner Stabtaschenlampe leuchtete er sämtliche Schatten aus, fand aber nichts Verdächtiges. Weil im Wohnwagen Licht brannte und die Tür offen stand, beschloss er sich ihn als Erstes vorzunehmen.

Erst spähte er durch die Seitenfenster, die rechte Hand am Griff seiner Pistole, die noch im Halfter steckte. Dann drehte er die Taschenlampe und klopfte mit dem Ende an die Wand des Wohnwagens. »Deputy-Sheriff. Irgendwer zu Hause?«

Stille. Ohne irgendetwas anzufassen, warf er vorsichtig einen Blick durch die Tür. »Deputy-Sheriff. Jemand da?«, wiederholte er. Dann trat er ein. Das Heizgerät strahlte eine wohlige Wärme ab. Ein paar Sekunden lang blieb er daneben stehen. Dabei sah er sich eingehend im Wohnwagen um. Alles wirkte ganz normal. Zwei Leute hatten hier geschlafen, darunter offenbar ein Kind – vermutlich ein kleines Mädchen.

Auch draußen schien alles in Ordnung zu sein. R.C. ging auf dem Platz vor dem Clubhaus auf und ab und suchte nach etwas, das als auffällig gelten konnte. Er achtete genau darauf, wohin er die Füße setzte, und suchte die Fläche vor dem Wohnwagen und dem Clubhaus systematisch ab. Schließlich entdeckte er sie: Mehrere dunkle Blutlachen führten bis zum Parkplatz, aber nicht weiter. Die Blutmenge war riesig. Was zum Teufel ...?, dachte er. Ich brauche Absperrband. Die Härchen auf seinem Nacken und seinen Armen richteten sich auf. Mit gezückter Pistole ging er auf die Veranda des Clubhauses zu.

»Deputy-Sheriff ... jemand da?«

Nichts als Stille. Das machte ihn nervös. An so viel Anspannung war er nicht gewöhnt.

»Deputy-Sheriff. Jemand zu Hause?« R.C. erklomm die Verandastufen. »Sumter County Sheriff!«, rief er und hoffte, dass niemand antworten würde. Er steckte den Kopf ins Clubhaus. Sofort blieb sein Blick an den Playmate-Kalendern hängen, die teilweise hinter relativ harmlosen Bikinikalendern versteckt waren. Er war auf eine wahre Goldader von Pin-ups gestoßen, studierte jedes einzelne ganz genau und verglich die Bilder mit Chastity. Die Zeit stand still ... bis in seinem Funkgerät Ollies Stimme knisterte.

»Ich bin hier, Chief«, antwortete R.C. Er konnte die Augen nicht von Miss November 1999 lassen. »Die Blutlachen vor dem Clubhaus sind eindeutig frisch und sie sind riesig. Aber hier ist keiner.« Er wandte seine Aufmerksamkeit Miss Oktober 1999 zu.

»Ich sage Miz Martha, sie soll im Krankenhaus anrufen. Vielleicht haben die jemanden in der Notaufnahme.«

»Roger. Bis gleich.«

R.C. funkte Martha an. Während er auf die Antwort wartete, beschäftigte er sich mit den Kalendern. Chastity ist mindestens so heiß wie diese Mädchen. Vielleicht sogar noch heißer.

»R.C.?« Das Funkgerät rauschte laut.

»Ja, Ma’am.« R.C. griff nach dem Schultermikro.

»Heute Abend waren zwei Leute in der Notaufnahme. Ist aber schon eine Weile her. Einer war in eine Messerstecherei am Fluss verwickelt. Es ging wohl um eine Angelstelle. Ein Angler war dem anderen zu nahe auf die Pelle gerückt. Wurde ins Bein gestochen. Aber es geht ihm gut. Dem Arzt hat er etwas von einem Unfall erzählt. Beide Angler hatten wohl ordentlich gebechert. Anscheinend beißen die Fische ganz gut.«

»Na ja, ein guter Angelplatz hat seinen Preis.« R.C. nickte.

»Die zweite Person kam mit Verbrennungen. Beim Hühnerleberbraten wurde das Fett zu heiß. Die Hängeschränke haben Feuer gefangen und sie hat sich beim Löschen die Hände verbrannt.«

»Autsch!«, sagte R.C.

»Hilft dir das irgendwie weiter?«

»Ja und nein. Aber danke, Miz Martha.« Er sah sich einen weiteren Kalender an.

Als er Fahrzeuge hörte, ging R.C. vor die Tür. Der Sheriff fuhr in seinem Ford Expedition voraus. Mick Johnson folgte ihm. Sie parkten hinter R.C.s Streifenwagen und stiegen aus.

»Irgendwas Neues?«

»Nein, Chief. Aber ich kann dir das Blut zeigen.«

Ollie warf ihm wegen des »Chiefs« einen finsteren Blick zu. »Moment, R.C.! Mick – erklären Sie uns alles ganz genau und lassen Sie keine Einzelheit aus. Auch wenn sie vielleicht unwichtig erscheint.« Ollie lehnte sich an R.C.s Streifenwagen.

Während Mick seine Geschichte erzählte, warfen Ollie und R.C. einander hin und wieder Blicke zu und versuchten die Mosaiksteine in Gedanken zusammenzusetzen.

»Zeig mir, was du gefunden hast, R.C.!«

R.C. zeigte Ollie die Blutlachen und die Stelle, wo sie plötzlich endeten. Er gab sich Mühe, nichts zu verändern. Der Sheriff sah sich um, schaute in den Wohnwagen und ging dann zum Clubhaus. Dabei spielte er gedanklich einige Möglichkeiten durch. Um wirklich etwas tun zu können, brauchte er Tageslicht. Das Gras ist so hoch, dass es jede Spur verschluckt. Wenn es überhaupt eine gibt. Er überlegte, ob er Jake Cosbys Familie anrufen sollte. Vielleicht hatte die etwas von ihm gehört. Wegen nichts und wieder nichts Alarm zu schlagen war ihm zuwider. Wahrscheinlich betrinkt der Kerl sich in irgendeiner Bar. Er kannte viele Typen, die die Jagd als Vorwand benutzten, um mal aus dem Haus zu kommen. Er würde Mick nachher fragen, ob er sich das vorstellen konnte.

Die drei Männer gingen ins Clubhaus. Ollie und Mick setzten sich auf Barhocker, R.C. beschäftigte sich anderweitig.

»R.C., R.C.! Jetzt pass doch mal auf. Hör auf, die Kalender anzustarren!«, schrie Ollie quer durch den Raum.

»Chastity ist mindestens so heiß wie diese Mädchen«, sagte R.C. stolz.

»Was hältst du von der Sache?«, fragte Ollie.

»Viel haben wir nicht. Das Blut macht mir Sorgen ... aber das könnte alles Mögliche bedeuten. In der Notaufnahme war niemand, zu dem dieses Szenario passt. Ich weiß nicht recht, Boss.«

»Mick, kann es sein, dass ein eifersüchtiger Ehemann hinter ihm her war?« Ollie versuchte es mit der wildesten Theorie.

»Das kann ich mir kaum vorstellen. Jake würde sich allerhöchstens für Charlize Theron interessieren ... Charlize Theron in einem Tarnmusterbikini vielleicht ... Er ist glücklich verheiratet. Zumindest nach dem, was man so mitbekommt«, antwortete Mick.

»Charlize Theron war nicht in der Gegend. Das wüsste ich«, sagte R.C. grinsend.

»Jake ist ein ziemlich vernünftiger Mensch, keiner, der auf Ärger aus ist. Wenn ich ihn bloß besser verstanden hätte ...« Mick machte sich ernsthafte Sorgen.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er ein Kind dabei hatte«, fügte R.C. nervös hinzu.

Ollie saß still auf dem Barhocker und wog verschiedene Möglichkeiten ab. Für eine groß angelegte Suchaktion fehlten ihm die Leute, selbst wenn sie notwendig werden sollte – was im Moment aber noch nicht der Fall war. Um diese Uhrzeit wollte er nur äußerst ungern andere Dienststellen um Hilfe bitten, denn es konnte gut sein, dass es falscher Alarm war. Das war ihm schon einmal passiert, und er hatte sich geschworen, dass es nie wieder vorkommen würde. Er stützte sein Kinn in die Hände. Eine Entscheidung musste her und er brauchte dringend Schlaf.