Vierundvierzig

»Einheit eins an Basis.« Verdrossen lehnte Ollie sich im Schalensitz des Expedition zurück. Dieser Anruf und die Probleme, die damit auf ihn zurollten, waren ihm mehr als zuwider. Es gab einfach zu viele offene Fragen, und Ollie hasste das.

Die Sekunden bis zu Marthas Antwort zogen sich hin. »Kommen, eins.«

»Haben Sie aus den Eltern was herausbekommen, was ich wissen sollte?«

»Nein. Rein gar nichts«, antwortete sie.

»Wie geht es dem jungen Tillman?«

»Alles unverändert.«

»Rufen Sie im Hale County an! Sheriff Marlow soll mich auf Kanal vier anfunken.« In Ollies Stimme schwang Resignation mit.

Eine lange Pause entstand. Martha wusste, warum Ollie nur ungern Einsatzkräfte aus den benachbarten Countys hinzuziehen wollte. Und Sheriff Marlow war vermutlich der angesehenste Sheriff im gesamten westlichen Alabama. Er war seit fast dreißig Jahren im Amt. Bei den letzten drei Wahlen hatte sich nicht einmal ein Gegenkandidat gefunden. Es war allgemein bekannt, dass er einiges bewegen konnte und dass er zu den engsten persönlichen Freunden des Gouverneurs gehörte. Das Problem war Marlows herablassende Art und dass er nie mit offenen Karten spielte.

»Sicher, Ollie. Augenblick.«

Martha O’Brien wählte die Nummer der Dienststelle im Hale County. Ein junger Mann, dessen Stimme Martha nicht kannte, nahm beim zweiten Klingeln ab. Gerüchten zufolge ließ Marlow junge Freigänger Telefondienst machen, den Rasen mähen, seine Fische ausnehmen und andere persönliche Dienste erledigen. Sie erklärte, wer sie war und dass Sheriff Landrum Sheriff Marlows Unterstützung brauchte. Martha hörte, wie der Mann Namen und Anweisungen notierte.

»Ich schaue mal, was ich für Sie tun kann ... Es ist schließlich Viertel nach drei morgens«, sagte er wichtigtuerisch.

Martha explodierte. »Wie spät es ist, weiß ich selbst! Die Angelegenheit ist dringend, sonst würde ich verdammt noch mal nicht anrufen! Und jetzt holen Sie Sheriff Marlow ans Funkgerät.« Mit den Lippen formte sie das Wort »Idioten« und atmete tief durch. Die Inkompetenz anderer Menschen machte Martha O’Brien jedes Mal fassungslos. Für so etwas hatte sie nicht das geringste Verständnis.

»Ja, Ma’am«, antwortete der junge Mann diesmal respektvoll.

»Sheriff Landrum wartet auf Kanal vier.« Martha zündete sich die nächste Zigarette an.

»Ja, Ma’am.« Der Mann legte auf und fing an zu fluchen.

Martha schob das Telefon beiseite und drückte den Mikrofonknopf des Funkgeräts.

»Sheriff? Er meldet sich wohl gleich bei Ihnen.«

»Danke, Miz Martha.«

»Kann ich sonst noch etwas tun?«

Ollie glaubte, einen Anflug von Mitgefühl in ihrer Stimme zu hören. »Vielleicht müssen Sie demnächst in Tuscaloosa anrufen. Möglicherweise brauchen wir einen Hubschrauber. Aber warten Sie, bis ich mit Marlow gesprochen habe. Bleiben Sie mit den Tillmans und den Beasleys in Verbindung und sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas hören, das uns weiterbringen könnte.«

»Ollie, bitte: Finden Sie das Mädchen!«, drängte Martha.

»Ja, Ma’am ... Ich muss jetzt den Kanal wechseln. Ich will Marlow auf keinen Fall verpassen.« Ollie stellte den neuen Kanal ein und war gespannt, wie Marlow reagieren würde.

Nach einem Blick auf die Uhr fuhr er das Fenster herunter, ließ frische Luft in den Wagen und lehnte sich zurück. Er dachte über die Rolle nach, die die Pistole in dem ganzen verrückten Szenario gespielt haben könnte. Durch die kreuz und quer aufgehängten Flutlichter entstanden tiefe Schatten, wodurch dieser Ort noch unheimlicher wurde. R.C. versuchte im Streifenwagen anhand der Seriennummer den Besitzer der Waffe zu ermitteln. Das würde einige Zeit dauern, es sei denn, die Pistole war geklaut. Und irgendwo dort draußen befand sich ein vermisstes Mädchen. Ollie hoffte, dass sich die Sache nicht zu einem schlagzeilenträchtigen Fall auswachsen und ihn ins Rampenlicht rücken würde.

Im Funkgerät meldete sich knisternd eine barsche Stimme. »Hale County Einheit eins an Sumter County Einheit eins.«

»Einheit eins, bitte kommen.« Jetzt gehts los, dachte Ollie.

»Verdammt, Ollie, was ist passiert?«

»Sheriff, wir haben hier eine ziemlich beunruhigende Situation.« Ollie gab Marlow die Kurzversion von Micks Anruf und den Funden im Jagdclub, erklärte, wie Tanner Tillman entdeckt worden war und dass Elizabeth Beasley vermisst wurde. Das Mädchen zu finden hatte absolute Priorität. Sheriff Marlow sagte, er kenne Zach Beasley. Zach war sein Steuerberater. Ollie versuchte seine Schilderung möglichst knapp zu halten, aber doch klarzumachen, wie vage und unsicher alles war.

»Das ist eine ernste Geschichte, Ollie. Sie haben recht – wir sollten uns erst mal auf das Mädchen konzentrieren. Ich trommle ein paar Deputys zusammen, dann klappern wir die ganze Gegend ab. In einer Stunde können sie so weit sein.« Marlow starrte aus dem Schlafzimmerfenster.

»Sheriff? Meinen Sie, wir sollen für die Suche bei Tageslicht einen Hubschrauber anfordern?«, fragte Ollie.

»Der nächste ist in Tuscaloosa stationiert, aber der muss erst repariert werden. Wenn die Nationalgarde gerade nicht in Nahost wäre, könnten wir von denen einen anfordern. Aber wissen Sie was ...? Ich könnte den Gouverneur anrufen und ihn fragen, ob er uns seinen zur Verfügung stellt. Ich komme zu Ihnen raus, dann machen wir einen Plan. Erinnern Sie sich noch ans letzte Mal?«

»Sehr gut.«

»Meine Deputys sollen sich von Ihrer Dienststelle den Weg erklären lassen. Ich bin schon unterwegs, mein Junge.«

»Danke.« Ollie empfand so etwas wie Erleichterung. Hilfe nahte und Marlow war weder arrogant noch unkooperativ gewesen.

R.C. stand an Ollies Wagentür und nickte. »Mit einem Helikopter wäre die Gegend schnell abgesucht.«

»Stimmt. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass sie weg sind. Warum sollten sie sich noch hier herumtreiben? Und wo? Dort draußen ist es kalt, nass und sumpfig. Die mussten weg. Deshalb fehlt vielleicht auch das Kennzeichen des Trucks. Sie wollen Zeit gewinnen«, sinnierte Ollie.

»Kann schon sein. Es sei denn, wir haben es mit Teenagern zu tun, die nirgends hinkönnen.«

Ollie nickte. Daran hatte er noch nicht gedacht. »Was Neues vom Waffenregister?«

»Die rufen zurück«, antwortete R.C.

»Ich will das Mädchen unbedingt finden, R.C. Ich fürchte ... Ich will gar nicht daran denken ... Wir müssen sie einfach finden, und zwar schnell.«

»Ja, Sir. Mir geht es genauso wie dir ... Aber wo fangen wir an?« R.C. warf ratlos die Hände in die Luft.

»Das ist das Problem. Wir können alle uns zur Verfügung stehenden Kräfte mobilisieren und am Ende feststellen, dass wir in der falschen Gegend suchen.«

Ollie zog das Funktelefon aus der Tasche und betrachtete es. »Vielleicht hilft das Ding uns irgendwie weiter. Wenn wir sie dazu bringen, uns ihren Standort zu verraten, haben wir wenigstens einen Anhaltspunkt.«

»Du hast recht. Oder aber sie schöpfen Verdacht und machen sich aus dem Staub.« R.C. schüttelte nachdenklich den Kopf.

Die Männer tauschten einen langen Blick aus, dann sahen sie das Telefon an.