Sechs
Um Mitternacht war Jake mitten in einem Alptraum, der ihn seit seinem fünfzehnten Lebensjahr verfolgte. Er wirkte so real, so lebhaft. Und er verlief immer gleich. Jake war in der tiefen Dunkelheit vor der Morgendämmerung auf dem Weg zu einem Hochstand. Bei jedem Schritt hörte er ein Geräusch, als würde er verfolgt. Er ging ein bisschen schneller, dann hielt er an. Das, was ihn verfolgte, blieb unbeweglich stehen – genau wie er. Sobald er weiterging, hörte er seinen Verfolger wieder. Die Schritte klangen schwer. Er knipste die Taschenlampe an, erwartete ein glühendes Augenpaar in ihrem Schein. Aber er sah nichts. Dann trat er plötzlich auf etwas, das nicht an diese Stelle gehörte. Es war ein Mensch, jemand, den er kannte. Tot. Brutal ermordet. Die Kehle durchschnitten, überall Blut. Genau in dem Moment, in dem der Strahl der Taschenlampe den Körper traf, hörte er einen hohen, spöttischen Schrei ... dämonisch ... Er kam von dem, was ihm folgte.
An dieser Stelle wachte Jake jedes Mal auf, schwitzend und zugleich eiskalt. Dieser Alptraum quälte ihn seit zweiundzwanzig Jahren, kam immer und immer wieder. Er kannte einen Psychiater, der seine wahre Freude daran gehabt hätte. Aber er hatte nie einer Menschenseele davon erzählt, und ohne eine Taschenlampe ging er nicht in den Wald, ob tagsüber oder bei Nacht.
Das Geräusch eines Fahrzeugs, das sich auf der Schotterstraße dem Camp näherte, riss Jake aus seinem Traum. Dank des orangefarben glühenden Heizgeräts war es im Wohnwagen inzwischen wohlig warm. Das muss Tate sein. Jake setzte sich auf und rieb sich die Augen. Dann stand er auf, zog sich die Stiefel an und schaute nach Katy. An ihre Beanie Babies gekuschelt, schlief sie tief und fest. Ich werde ihn bitten im Clubhaus zu übernachten. Er schnarcht wie ein Güterzug.
Nur in Boxershorts und Stiefeln öffnete Jake die Wohnwagentür einen Spaltbreit. Außer einigen männlichen Stimmen hörte er Hank Jr. »Whiskey Bent and Hell Bound« singen. Die Leute draußen konnte er nicht sehen, das Tor war knapp hundertfünfzig Meter entfernt. Angestrengt versuchte er zu verstehen, worüber die Männer sprachen. Viele unterschiedliche Stimmen. Das war seltsam. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Die Sache gefiel ihm ganz und gar nicht. Anscheinend stritten die Kerle sich. Jemand mit einer tiefen, rauen Stimme sagte: »Das Tor ist nicht abgeschlossen.« Als Jake einen anderen antworten hörte: »Dann ist das, was wir hier tun, auch kein Einbruch«, wusste er, dass es Ärger geben würde.
Rasch ging er zu seinem Truck und holte seine Pump-Action-Gun heraus, eine Vorderschaft-Repetierflinte. Er tastete in der Truthahnjagdweste nach Patronen, fand nur die drei, die er auf der Jagd immer mit sich führte, und schob sie ins Magazin. So leise wie möglich lud er durch und ließ die erste Patrone in die Kammer gleiten.
Zwei Pick-ups fuhren langsam ins Camp. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern. Ihre Fenster waren offen; sie blieben nebeneinander stehen. Jake wartete im Schatten neben dem Clubhaus. Er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte.
»Den Wohnwagen habe ich hier noch nie gesehen«, sagte einer.
Ein anderer sagte: »Klauen wir den Truck!«
»Und prügeln wir den Besitzer windelweich«, fügte ein dritter mit eindeutig zu großer Begeisterung hinzu.
»Haltet verdammt noch mal die Klappe und lasst mich nachdenken!«, befahl der vierte Mann.
Alle vier stiegen aus und versammelten sich hinter Jakes Truck. Dann gingen sie plötzlich auf seinen Wohnwagen zu, als gehöre ihnen das ganze Camp. Jake sah, wie der Kräftigste eine Pistole zog und durchlud. Er konnte nicht fassen, dass das wirklich geschah. Noch nie im Leben hatte er eine Waffe auf einen Menschen gerichtet. Tatsächlich auf jemanden zu schießen lag jenseits seiner Vorstellungskraft. Doch die schlechte Ausgangslage, in der er sich befand, erforderte gute Entscheidungen. Sein Herz raste so heftig, dass ihm schwindlig wurde.
Aus dem Schatten heraus sagte er laut: »Keinen Schritt weiter! Ihr macht am besten sofort wieder kehrt. Meine Waffe ist auf euch gerichtet.«
Alle blieben stehen und sahen den Dünnsten der Gruppe an. Mit einem dreckigen Lachen und einem selbstbewussten Schritt nach vorn fragte der: »Ist sie größer als meine?« Er zog eine 44er-Magnum Ruger Blackhawk aus dem Stiefel und zielte damit in Jakes Richtung.
Das passiert jetzt nicht wirklich. »Ich meine es ernst«, sagte Jake. »Verschwindet jetzt besser. Sofort. Das ist ein Privatgrundstück.«
»Er hat gar keine Waffe, Johnny Lee!«, schrie der Fette.
»Keine Namen, du blöder Arsch!«, schnauzte der mit der 44er ihn wütend an.
»Passt auf: Ich kenne keinen von euch und erinnere mich an nichts. Und jetzt haut ab!«, schrie Jake.
»Ich glaube auch nicht, dass er eine Knarre hat ... Warum sollte er sich sonst im Schatten verstecken?«, sagte einer von ihnen ziemlich überzeugt.
»Ich bin zur Truthahnjagd hier und mein Gewehr ist auf euch gerichtet. Also schlage ich vor, ihr verlasst das Camp.« Jake wurde langsam richtig nervös. Er überlegte, ob er sich den Männern zeigen sollte, damit sie die Waffe sahen. Aber würde ich sie in meinen karierten Boxershorts wirklich einschüchtern?, überlegte er.
Sie schienen die Chancen und Risiken abzuwägen. Dabei machten die Kerle nicht den Eindruck, als hätten sie für fünf Dollar Kleingeld in der Tasche – geschweige denn, als könnten sie derart weitreichende Entscheidungen treffen. Dann lief plötzlich alles wie in Zeitlupe ab. Jake hatte das ungute Gefühl, dass der Dürre, Johnny Lee, auf Ärger aus war und dass die anderen sich an ihm orientierten. Deshalb richtete er die Waffe auf Johnny Lee und entsicherte sie.
»In dem Club gibt es keine Truthahnjäger ... Das weiß ich ... Er blufft. Ich wette, er betrügt hier draußen mit einer flotten Schnecke seine Frau«, sagte einer von ihnen aufgeregt.
»Meinst du?«, fragte Johnny Lee ganz ruhig. Doch Jake sah, wie seine Augen sich weiteten. »Wo ist sie?«
Die Wölfe witterten Beute; sie brannten darauf loszuschlagen.
Johnny Lee starrte direkt in Jakes Richtung. »Durchsuch das Clubhaus!«, befahl er. Er zeigte auf den muskulösen Typen, der auch sofort voller Eifer ins Haus eilte. Drinnen hörte Jake ihn herumstapfen, Türen und Schubladen aufreißen und zuschlagen.
Jake hielt das Gewehr weiterhin auf Johnny Lee gerichtet.
Nach ein paar Minuten war der massige Kerl wieder draußen.
»Keiner da.«
»Sieh dir den Wohnwagen an, Reese.« Johnny Lee grinste.
»Du hast meinen Namen gesagt!«, antwortete derjenige, der offenbar Reese hieß, sofort. Noch rührte er sich nicht.
»Ist doch egal«, sagte Johnny Lee selbstbewusst. »Ich habe eine Idee ... einen Plan.«
Das gefiel Jake überhaupt nicht. Sein Herz schlug heftig und seine Handflächen waren nass geschwitzt. Fieberhaft überlegte er, was er sagen konnte, um die Situation zu entschärfen. Vor seinen Augen entwickelte sich ein unfassbares Szenario, und er hatte das Gefühl, in einer Art Paralleluniversum gelandet zu sein – als stünde er wie ein unbeteiligter Beobachter neben sich. Eine Bewegung, die einer der Kerle machte, holte ihn schlagartig zurück in die Realität. Reese ging auf den Wohnwagen zu.
»Nein! Stopp!«, schrie Jake. »Noch ein Schritt und ich schieße!« Er hoffte, dass sie die Angst in seiner Stimme nicht hörten.
»Bingo!«, schrie Johnny Lee. »Sie ist im Wohnwagen!« Die ganze Bande fing an zu lachen und zu pfeifen.
Jake sagte nichts. Er dachte nach. Die Härchen auf seinem Nacken richteten sich auf. Diese Kerle verstanden nur eine Sprache – Gewalt. Mit Vernunft durfte man bei ihnen nicht rechnen. Er konnte die Waffe noch einmal durchladen, damit sie hörten, dass er tatsächlich eine hatte. Aber wegen der Dunkelheit und dem hohen Gras würde er dabei eine Patrone verlieren.
Johnny Lee sah plötzlich aus, als hätte er eine Entscheidung getroffen.
»Ich glaube, erst mal verderben wir dem Typen so richtig den Abend. Dann haben wir ein ... kleines Date mit seiner Lady und klauen anschließend seine Mühle«, sagte er ganz ruhig zu seinem Rudel. Direkt an Jake gewandt fügte er in einem schmeichelnden Ton hinzu: »Tritt aus der Dunkelheit, Bruder, und zeig dich! Kannst du auch quieken wie ein Schwein? Wie der Typ in ‹Beim Sterben ist jeder der Erste›? Du weißt ja, was sie danach mit ihm gemacht haben.«
Alle außer Jake lachten sich halb tot.
»Wie sieht sie denn aus? Schwarzes Häschen?«, fragte einer und lachte noch dreckiger.
»Alles ist gut!«, fügte ein anderer hinzu. Wieder lachten alle.
Jake sagte: »Ich bin allein und habe nur meine Kaliber 12 dabei – und ich will keinen Ärger. Bitte haut einfach ab.«
Sweat zog glucksend ein Messer aus der Gesäßtasche. Er liebte erzwungenen Sex. So erregt war er seit Jahren nicht mehr gewesen.
Die Männer standen keine zehn Schritte von Jake entfernt, doch wegen der Schatten und des Flutlichts, das sie blendete, konnten sie ihn nicht sehen. Er konnte nicht fassen, wie unverfroren sie waren.
Soll ich den Anführer ins Bein schießen? Oder in die Luft ballern? Ich habe nur drei Patronen. Ich darf keine verschwenden. In Johnny Lees Augen sah Jake die pure Bosheit, und plötzlich war ihm klar, dass er ihn töten musste. Er warf einen Blick über die Schulter, dankte Gott, dass er Katy nicht sah, und betete, dass sie noch schlief.
Johnny Lee richtete seine gigantische Pistole direkt auf Jakes Kopf. Jake schluckte. Er schaute direkt in die Mündung. Ohne Vorwarnung schwang Johnny Lee die Waffe plötzlich in Richtung Wohnwagen und feuerte. BUMM!
Jake machte vor Überraschung und Angst einen Luftsprung. O mein Gott! Katy! Er schaute den Wohnwagen an und dann den grinsenden Johnny Lee. Die anderen Typen lachten. Wie in Zeitlupe sah Jake Johnny Lee mit dem Daumen den Hahn spannen und erneut auf den Wohnwagen zielen.
»Neeeeein!«, schrie Jake, nahm Johnny Lees Brust ins Visier und drückte ab. BUMM!
Noch während das Mündungsfeuer alle eine Sekunde lang blendete, brach die Hölle los. Johnny Lee wurde von den Füßen gerissen, Reese schoss zweimal in Jakes Richtung, packte dann Johnny Lee an den Schultern und schleifte ihn zu den Trucks. Der Fette stolperte über einen Grill. Jake lud die zweite Patrone in die Kammer, bereit, auf jeden zu schießen, der sich ihm oder dem Wohnwagen näherte. Zwei weitere Schüsse hallten. Knapp über Jakes Kopf schlugen sie in die Wand des Clubhauses ein. Die Kerle suchten Deckung hinter ihren Trucks und redeten aufgeregt auf ihren Anführer ein. Johnny Lee schrie vor Schmerzen. Hektisch hoben sie ihn auf die Pritsche des schwarzen Pick-ups. Der Splitt stob unter ihren Reifen, als sie zurücksetzten und den Weg entlangjagten. Am Tor hielten sie an. Jake hörte sie streiten. Einer schien ganz besonders außer sich zu sein.
Wie in Trance und triefend vor Schweiß stand Jake da. Die Benommenheit wich nur langsam. Ich musste auf ihn schießen, sagte er sich. Sie haben mich dazu gezwungen. Ich musste Katy schützen.
»Katy! O Shit!« Jake rannte zum Wohnwagen. »O Gott, Katy! Alles in Ordnung? Fehlt dir was? Katy, bist du verletzt?«, schrie er und machte Licht. Ihr winziger Kopf lugte aus dem Schlafsack. Er stürzte zu ihr und nahm sie fest in den Arm.
Dann hob er sie aus dem Bett und rannte mit ihr zum Truck. Sie sah aus, als wolle sie in Tränen ausbrechen. Er setzte sie auf den Beifahrersitz, hetzte erneut zum Wohnwagen, sprang in seine Jeans und griff sich ein Hemd. Auf dem Weg zurück zum Truck kam ihm plötzlich ein Gedanke. Er machte kehrt, holte Katys Tarnkleidung aus dem Airstream und warf sie in den Wagen. Am Tor machten die Kerle noch immer Radau.
»Du hast ihn umgebracht!«, schrien sie in seine Richtung. »Du hast ihn umgebracht! Du Arschloch! Dafür wirst du bezahlen ... Du ... du bist tot!«
Einer brüllte immer wieder: »Du bist eine Leiche, eine lebende Leiche!«
Jake hatte nur zwei Möglichkeiten, aus dem Camp zu kommen: Der übliche Weg führte durch das Tor, das die Rednecks blockierten. Aber es gab noch einen selten benutzten Forstwirtschaftsweg. Er schlängelte sich etliche Meilen weit durch den Wald, dann traf er auf eine ehemalige Bahntrasse, die Dummy Line genannt wurde und nach ein paar weiteren Meilen an einer Landstraße endete. Über die Trasse hatte Jake das Camp noch nie verlassen.
Mit durchdrehenden Reifen steuerte er Richtung Süden zur Dummy Line. Als er um die Kurve schlingerte, sah er noch einmal kurz die Kerle am Tor.
»Daddy, was ist passiert? Was ist los?«, jammerte Katy.
»Ein paar sehr böse Männer wollten uns etwas antun und ich musste auf einen von ihnen schießen. Jetzt müssen wir schnell hier weg. Bitte hör mir jetzt gut zu und tu genau das, was ich sage ... Okay? Bitte? Du musst mir helfen. Okay?«
Mit Tränen in den Augen nickte sie. Jake schnappte sein Handy. Ein Balken auf der Empfangsanzeige. Er trat auf die Bremse, öffnete das Handschuhfach und zog sein Notizbuch heraus. Sein erster Gedanke war, den Sheriff anzurufen. Zwar wusste er weder die Nummer noch wie er seinen Standort genau beschreiben sollte, trotzdem versuchte er es mit dem Notruf. Es kam keine Verbindung zustande. Er gab wieder Gas, schleuderte um ein paar Kurven und riss dabei einige junge Bäume um. Weil der Waldweg immer schlammiger wurde, schaltete er den Allradantrieb ein. Plötzlich fiel ihm sein Freund Mick Johnson ein, der nur fünfzehn Meilen entfernt wohnte. Durch Mick war er überhaupt erst in diesen Jagdclub gekommen. Wieder trat er auf die Bremse. Zwei Balken. Das konnte funktionieren. Er suchte nach Micks Nummer und wählte.
»Komm schon. Bitte komm. Geh ran. Zieh dich schon mal an, Katy ... Deine Sachen sind hier. Es klingelt!«, sagte er fast atemlos. »Und schnall dich an.«
Mick Johnson lag schon seit neun Uhr im Bett. An fast jedem einzelnen Tag der Saison war er auf Truthahnjagd gegangen und jetzt, Mitte April, war er hundemüde. Als er das Telefon klingeln hörte, drückte er auf die Taste am Wecker und wunderte sich, wie kurz die Nacht gewesen war. Seine Frau stieß ihn in die Seite und sagte ihm, das sei nicht der Wecker sondern das Telefon.
»Hallo«, murmelte er nach dem sechsten Klingeln benommen.
Jake versuchte, nicht zu schnell zu reden und sich möglichst klar und knapp auszudrücken. »Mick, hier Jake. Der Sheriff soll zum Jagdcamp kommen. Das ist ein Notfall. Eine Horde Rednecks versucht mich umzubringen ... Hallo, Mick ... hörst du mich? Mick?«
Die Verbindung brach ab. Jake zischte einen Fluch. Er musste dringend für Abstand zu diesen Irren sorgen. Er warf das Telefon hin und fuhr weiter. Sicher würden sie ihn verfolgen. Verdammt! Ich habe keine Ahnung, ob Mick mich überhaupt gehört hat.
»Wer war das?«, fragte Micks Frau schläfrig.
»Ich glaube, das war Jake Crosby vom Handy aus. Er könnte etwas von einem Notfall gesagt haben.« Mick stützte sich auf einen Ellbogen.
»Und weshalb ruft er dann dich an?«
»Keine Ahnung.« Mick legte sich wieder hin.
»Was für ein Notfall denn?«
»Weiß ich nicht.« Mick rieb sich die Augen.
»Okay ... und was willst du jetzt machen?« Micks Frau drehte sich wieder um.
»Ich denke, ich sollte mal nachsehen. Schlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr.«
»Sei vorsichtig. Willst du vielleicht Beau mitnehmen?«
»Ja ... Gute Idee.«
Langsam stand er auf und zog sich an. Der Familienhund Beau, ein Golden Retriever, wartete bereits an der Hintertür auf ihn. Er strecke sich, gähnte und wedelte mit dem Schwanz.