Sechsundvierzig

So schnell er konnte, fuhr Larson zu Johnny Lee Grovers Wohntrailer. Sämtliche Polizeikräfte der Gegend kannten die Adresse. Der Sheriff beobachtete Johnny Lee seit Jahren. Man verdächtigte ihn der Herstellung und des Besitzes von sowie des Handels mit Drogen – und anderer Verbrechen. Ein legales Einkommen schien er nicht zu haben.

Erst vor etwa sechs Monaten war Larson zum letzten Mal bei Johnny Lee gewesen. In der Dienststelle war damals ein Anruf eingegangen, weil jemand Schüsse gehört hatte, und Larson war als Erster vor Ort gewesen. Hinter dem Wohntrailer hatte er zwei nackte, methamphetaminsüchtige Teenager entdeckt, die mit einem Gewehr Kaliber .22 in den Wald schossen und versuchten, die »Baummenschen« zu töten. Bei Shugs Anblick hatten die zwei auf jeden Widerstand verzichtet. Dass sie dennoch darauf beharrt hatten, die Bäume seien voller Leute, die sie umbringen wollten, hatte Larson traurig gemacht. Als er die Junkies in den Streifenwagen verfrachtet hatte, war Johnny Lee aus dem Wohntrailer gekommen und hatte sich bedankt. Wegen der ganzen Ballerei habe er kein Auge zubekommen, sagte er. Larson wusste, dass die Kids die Drogen von Johnny Lee hatten, konnte es aber nicht beweisen. Die Jungen waren erst sechzehn gewesen.

Etwa zweihundert Meter vor Johnny Lees Wohntrailer schaltete Larson die Scheinwerfer aus. Langsam fuhr er näher heran und sah den schwarzen Tahoe oder Suburban, der mit dem Heck zum Eingang vor dem Trailer stand. Das Fahrzeug kannte er nicht, war sich aber fast sicher, dass es nicht Johnny Lee gehörte. Auf der kleinen Veranda leuchtete die orangefarbene Glut einer Zigarette auf. Larson beschloss hinzufahren und ein paar Fragen zu stellen. »Achtung!«, sagte er zu dem sich noch immer leckenden Schäferhund, schaltete die Scheinwerfer an und hielt. Der Kerl, der auf der Eingangstreppe saß, blies Rauchkringel in die Luft.

Der schwarze Tahoe hatte Spinner-Radkappen aus Chrom. Bevor Larson ausstieg, sah er sich sorgfältig um. Für den Fall, dass er Shug brauchte, kurbelte er das hintere Fenster herunter.

»’n Abend ... oder sollte ich lieber ‹Morgen› sagen?« Larson schloss die Wagentür.

Der Typ nickte bloß.

»Haben Sie einen Namen?«, fragte Larson.

Moon Pie nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und beschloss die Wahrheit zu sagen. »Ethan Daniels«, antwortete er, nachdem er den Rauch in die Luft geblasen und die Kippe in den Schotter geschnippt hatte. »Ich will hier ein bisschen angeln.«

»Ach ja? Wo ist Johnny Lee?«

»Besorgt gerade die Köder«, antwortete Moon Pie ultracool.

Larson kaufte ihm das nicht ab, konnte aber nichts machen. In der Hoffnung, irgendetwas zu erfahren, ließ er sich auf das Spielchen ein.

»Ich muss dringend mit ihm reden.« Larson versuchte durch die getönten Scheiben des Fahrzeugs zu spähen.

»Da müssen Sie schon warten, bis er wieder hier ist. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihn erreichen kann.«

»Wie wärs mit dem Handy?«

»Ich weiß nicht mal, ob er eins hat.«

Moon Pie schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und hielt Larson die Packung hin.

»Nein danke«, sagte Larson. »Kettenraucher?«

»Ich mag das Zeug – ja.« Moon Pie wölbte die Hände um die Zigarette, zündete sie an und blies gekonnt einen Rauchkringel in die Luft.

»Sobald Sie ihn sehen oder von ihm hören, sagen Sie ihm, dass der Sheriff sofort mit ihm sprechen will. Er soll uns anrufen. Hier ist meine Karte. Und ich meine es ernst.«

»Immer gerne. Der Polizei helfe ich, wo ich kann.«

Larson richtete die Taschenlampe auf das Kennzeichen hinten am Tahoe. Er prägte sich die Nummer ein und fragte nebenher Ethan, wo er zu Hause sei.

»Ich bin aus Noxapater, Mississippi. Aber ich wohne in Tupelo.« Ethan wusste, dass er sich das Lügen in diesem Fall sparen konnte.

»Woher kennen Sie Johnny Lee?«

»Wir haben zusammen Medizin studiert.«

Damit brachte er Larson zum Lachen. »Und dann haben Sie auf Comedian umgesattelt? Ich muss so schnell wie möglich mit Johnny Lee oder einem der Jungs reden, die immer mit ihm herumhängen.« Den zweiten Satz sagte Larson in einem sehr ernsten Ton.

»Ich richte es ihm aus, sobald ich ihn sehe.«

»Und vergessen Sie nicht, ihm zu sagen, er soll uns anrufen.« Larson warf Moon Pie einen grimmig entschlossenen Blick zu.

»Kein Problem, Officer.«

Larson stieg wieder in den Streifenwagen und kurbelte das hintere Fenster hoch. Er beschloss den Sheriff auf den neuesten Stand zu bringen. Während er zum Mikrofon griff, fixierte er Ethan.

»Ich höre, Larson.«

»Sheriff, ich bin bei der Wohnadresse des Verdächtigen. Er ist nicht da. Auf der Treppe sitzt ein Kerl, der behauptet, er sei ein gewisser Ethan Daniels aus Tupelo. Hat ein Kennzeichen aus Mississippi und meint, sie würden angeln gehen. Angeblich besorgt der Verdächtige gerade die Köder.«

»Anglerlatein«, raunte R.C., der das Gespräch mit anhörte.

»Bleib in der Nähe und behalte ihn im Auge. Halte Funkkontakt. Ich habe Verstärkung angefordert. Die müsste bald hier sein.«

»Roger, Sheriff.«

Larsons setzte zurück. Er wollte den Eindruck erwecken, als würde er ganz wegfahren. Nach einer Meile jedoch wendete er, schaltete die Scheinwerfer aus, ließ den Streifenwagen bis auf etwa zweihundert Meter an den Wohntrailer heranrollen und parkte dann außer Sichtweite.

Moon Pie hörte den Deputy zurückkommen. Auf diesen alten Trick fiel er schon lange nicht mehr herein. Er musste Reese Bescheid geben. Dazu stieg er in seinen Tahoe und schloss die Tür.

Biep-biep. »Reese?« Etwa dreißig Sekunden krochen dahin, bis er eine Antwort hörte.

Biep-biep. »Ja?«

Biep-biep. »Yo, ich bin beim Wohntrailer. Gerade war Deputy McDoof Supercop hier, hat Fragen über Johnny Lee gestellt. Tat dann, als würde er wegfahren. Aber er parkt ganz in der Nähe. Den Wohntrailer und mich kann er nicht sehen. Er hat mein Kennzeichen, aber ansonsten hat er keinen feuchten Furz aus mir rausgekriegt.«

Biep-biep. »Wo ist mein Paket?«

Biep-biep. »Habs drinnen verstaut.«

Reeses Gedanken rasten. Er wollte Rache, aber die Frau wurde langsam zum Risiko. Sie weiterhin festzuhalten war nicht schlau. Er überlegte angestrengt, was die Cops von Johnny wollten. Es könnte tausend Gründe geben, weshalb sie sich Jonny Lee vornehmen wollen. Das ist nichts Ungewöhnliches. Aber ausgerechnet heute Nacht? Und um diese Zeit? Wir müssen die Frau loswerden!

Biep-biep. »Hey, warte kurz.«

Biep-biep. »In Ordnung ... Pass auf, ich helfe euch wirklich gern, aber ich will keinen Ärger. Oder sagen wir lieber, wir wollen keinen Ärger.« Moon Pie war nicht mehr wohl in seiner Haut. Er schuldete Johnny Lee einen Gefallen. Deshalb war er überhaupt in diese Kacke verwickelt, und er würde die Sache mit durchziehen, weil er mit dem Drogentransport auf dem Fluss richtig Kohle machen konnte. Wenn Reese im Knast saß, war dieses Projekt in Gefahr.

Biep-biep. »Moment noch.«

Biep-biep. »Wenn ich hier wegfahre, fährt Deputy McDoof mir ganz sicher hinterher.«

Reese wusste, dass Moon Pie recht hatte. Aber die Frau durfte auf keinen Fall im Wohntrailer sein, falls sie hochgingen.

Biep-biep. »Ich sagte, warte kurz. Ich denke nach.«

Moon Pie schüttelte den Kopf. »Verdammt!«, murmelte er. Für eine Entführung gibts ein paar Jahre Bundesknast. Ich gebe Reese exakt zehn Minuten. Mehr nicht.