Eins
»Beeil dich, Katy!«, rief Jake Crosby. Er nahm den nassen Tennisball aus der Schnauze seines uralten Labradors Scout. »Wir müssen los, sonst haben wir nicht mehr genug Zeit, ein Feuer zu machen und Marshmallows zu grillen.«
Was denke ich mir bloß?, ging es ihm durch den Kopf. Eine Neunjährige lässt sich nicht zur Eile antreiben.
Katy war am liebsten draußen an der frischen Luft und in der freien Natur. Sie jagte und angelte mit Begeisterung und freute sich an den kleinsten Dingen. Stundenlang konnte sie kichernd mit Köderfischchen oder Grillen spielen. Ihren ersten Hirsch hatte sie mit sieben erlegt – einen jungen Bullen, mit einem einzigen perfekten Schuss. Das machte sie zu einem vollwertigen Mitglied der Jägerbruderschaft ... oder vielleicht der Jägerinnenschwesternschaft. Jedenfalls zog sie fürs Leben gern mit ihrem Vater los und Jake passte seine Jagdgewohnheiten bereitwillig Katys Fähigkeiten an. Sie mit allem, was es in den Wäldern zu sehen und zu hören gab, war ein Vergnügen – ein Geschenk. Katy hatte den Ehrgeiz, besser zu sein als die Jungs in ihrer Klasse. Sie genoss diesen Wettstreit. Und Jake sorgte dafür, dass sie erfolgreich war. Bis zu ihrem achten Geburtstag hatte sie bereits etliche Male die tägliche Fangquote für Forellen ausgeschöpft, eine Bootsladung Barsche gefangen und vier Hirsche geschossen. Auch auf Entenjagd war sie schon einige Male mit Erfolg gewesen. Jake hatte einen Wildfang zur Tochter und war darüber sehr glücklich. Er hoffte, bei diesem Wochenendtrip einen wilden Truthahn anlocken zu können. Den Moment, wenn das Tier kollernd und mit vollem Balzgehabe umherstolzierte, würde Katy fortan nie mehr missen wollen. An diesem Wochenende würde sie erleben, worin die Faszination der Truthahnjagd bestand.
Endlich riss Katy die Haustür auf. Mit ihrer Reisetasche mit Tarnmuster, zwei Beanie-Babies-Stofftieren und einem Armvoll Büchern kam sie herausgeschossen. Sie war eine Leseratte. Jake gefiel ihr Erscheinungsbild. Sein süßer Wildfang hatte den Pferdeschwanz hinten durch die Baseballmütze gezogen. Er lächelte.
»Was ist, Dad? Bist du endlich fertig?«, frotzelte sie. »Können wir Billard spielen, wenn wir da sind?«
»Klar. Hast du alles ... Stiefel, Mückennetz für den Kopf, Handschuhe ...?«
»Jawohl, Sir«, antwortete Katy artig, verdrehte dabei aber die Augen.
Jakes Frau Morgan kam mit Katys lindgrünem Schlafsack und ihrem rosaroten Kopfkissen aus dem Haus.
»Bitte achte darauf, dass sie ihr Geschäft macht. Nicht so wie letztes Mal«, sagte sie mit einer Mischung aus ein wenig Sorge und Sarkasmus.
»Ich habe sie gefragt, ob sie muss. Die Gegebenheiten haben ihr allerdings nicht so recht zugesagt. Es ist nicht gerade das Hilton. Aber ich sorge dafür, dass sie diesmal geht. Willst du nicht mitkommen?« Die Antwort auf diese Frage kannte er bereits.
»Nein. Ich leihe mir einen Film aus, mache es mir auf der Couch gemütlich und faulenze ein bisschen.«
»Morgen Mittag sind wir wieder da ... und ich wette, wir bringen einen Truthahn mit. Mach dir um Katy keine Sorgen. Ich passe auf sie auf. Tate ist schon dort, hat Licht und ein Feuer gemacht. Sie wird einen Riesenspaß haben.«
»Wann machst du das Blumenbeet hinten im Garten fertig?« Ob sie einen Truthahn erlegten, war Morgan egal. Sie hoffte sogar, sie würden keinen mitbringen, weil Jake dann darauf bestehen würde, Katys ersten Vogel ausstopfen zu lassen und im Hobbyraum aufzustellen. Für Morgan war Jakes improvisierter Trophäensaal ein erstarrter Zoo voller toter Kreaturen. Die Hirschköpfe schienen sie anzustarren; die Truthähne waren abstoßend hässlich; die Enten ertrug sie gerade noch, aber der präparierte Luchs machte sie traurig. Wozu eine Katze totschießen?, fragte sie sich immer.
Morgan hasste die Jagdsaison. Sie hasste die Hirschsaison. Sie hasste die Entensaison. Und dann, wenn gerade alles wieder seinen normalen Gang nehmen wollte, kam die Frühlingstruthahnsaison, die sie am allermeisten hasste. Im Grunde hatte sie gar nichts gegen den »Sport« an sich. Er fraß nur so furchtbar viel Zeit – Jakes Zeit, in der er eigentlich mehr Geld verdienen oder sich als Heimwerker nützlich machen sollte.
Die Truthahnjagd strengte Jake ganz besonders an, weil sie so früh am Tag begann. Truthahnjäger verhielten sich wie ein Geheimbund, standen unsäglich früh auf, bemalten sich die Gesichter und fuhren zu nachtschlafender Zeit quer durchs Land. Ergebnis: Die Gartenarbeit blieb größtenteils liegen, obwohl gerade im Frühjahr am meisten zu tun war. Während die Nachbarn emsig Sträucher beschnitten und Mulch in den Boden einbrachten, war Jake entweder weg oder lag schlafend auf der Couch, um sich von einem frühmorgendlichen Jagdausflug zu erholen. Dabei sah ihr Garten eigentlich sogar besser aus als die meisten anderen. Irgendwie fand Jake doch immer die Zeit, sämtliche Arbeiten zu erledigen. Aber Morgan verschloss davor die Augen. Es ärgerte sie immer gewaltig, wenn Jake auf der Couch lag.
Wenn er schon etwas Unnützes tut, könnte er wenigstens wie jeder andere Börsenmakler der Welt Golf spielen. Vielleicht würden sich auf dem Platz oder im neunzehnten Loch ein paar Geschäfte einfädeln lassen deln lassen, dachte sie voll Unmut.
Selbst nach zwei Jahren als festes Paar und elf Jahren Ehe hatte Morgan den Versuch, Jake zu ändern, noch nicht völlig aufgegeben – es gelang ihr nur besser, ihn zu tolerieren. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass Jake ganz gut für sie sorgte. Und selbst sie kam nicht an der Tatsache vorbei, dass er ein großartiger Vater war. Das musste sie ihm lassen, auch wenn sie ihn langweilig fand.
Eher von dem Wunsch angetrieben, Morgan nicht ständig nörgeln zu hören, als von einem inneren Streben nach Reichtum, hatte Jake im großen Stil in einige »todsichere« Werte investiert, die alle überrascht hatten. Wenige Wochen danach war ihre Börsennotierung eingestellt worden. Die Tatsache, dass er nun komplett den Banken gehörte, war Jakes größte Sorge. Die Raten für das Haus, das Auto, den Truck, die Gebühren für die Privatschule, die Reitstunden – die Liste war endlos. Am Ende schien immer mehr Monat übrig zu sein als Geld.
Morgan hatte Jake geheiratet, weil sie geglaubt hatte, er habe eine große Zukunft an wichtigen Orten vor sich – weit weg von West Point, Mississippi, einer Kleinstadt mit kaum einmal zehntausend Einwohnern in einem ländlichen Gebiet. Jake und Katy mochten West Point. Aber Morgan sehnte sich nach einer Großstadt mit allem Drum und Dran.
Nur wegen Katy war sie noch da. Aber sie verpasste keine Gelegenheit, wegen seiner Unzulänglichkeiten und seines Versagens gegen Jake zu sticheln. Zum Beispiel, weil er mit seinen Krispy-Kreme-Aktien baden gegangen war. Jake hatte darauf bestanden, dass sämtliche seiner Kunden gleich zum Börsengang bei Krispy Kreme einstiegen. Er war mit den warmen Donuts mit Zuckerguss aufgewachsen und wusste einfach, dass die ganze Welt sie ebenfalls lieben würde. Auf dem Papier hatte Jake seinen Kunden und seiner Firma damit viel Geld gebracht. Allerdings waren nur wenige seiner Kunden so schlau gewesen, die Gewinne mitzunehmen, während zu viele andere seinem Beispiel folgten und hilflos mit ansahen, wie das Donut-Geschäft von der Atkins-Diät-Welle mit ihrem Verzicht auf Kohlehydrate schwer gebeutelt wurde. Jake hielt die Papiere und hoffte weiter, dass die Abwärtsspirale enden würde. Vergebens. Er liebte diese Donuts einfach zu sehr und weigerte sich zu verkaufen. Für Jakes und Morgans Portfolio war das ein schwerer Schlag. Er brauchte dringend etwas, das sich blitzschnell zu einem brandheißen Wert entwickelte. Seine Firma war Konsortialführer für zwei Technologiewerte, die im Juni an die Börse gehen sollten, und er konnte es kaum erwarten. Außerdem dachte er über eine Möglichkeit nach, Kapital aus dem holländischen Auktionsverfahren beim Börsengang einer Firma zu schlagen, die gebrauchtes Motoröl in geringwertigen Dieselkraftstoff umwandelte. Ein einziger großer Coup und ich habe sie vom Hals.
Jake sah, dass Morgan wegen des Blumenbeets noch immer auf eine Antwort wartete. »Bald. Versprochen. Ich kümmere mich darum.« Er meinte es durchaus ernst. Es hatte nur keine Priorität ... für ihn.
»Einsteigen, Katy! Los, lass uns fahren.«
»Tschüss, Mom. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
»Tschüss!«
»Tschüss!«
»Tschüss!«
»Bitte, Mädels! Wir sind doch morgen wieder zurück.«
»Tschüss, Mom!«
»Tschüss, Süße!«
»Los, Katy. Wir müssen. Man könnte meinen, morgen beginnt für dich das College und du ziehst von zu Hause aus.«
»Na ja, Jake ... Und wenn etwas passiert? Das ... das könnte unser letzter Abschied sein.«
Jake wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Was konnte er sagen? Er ließ einfach den Motor an und winkte zum Abschied.
»Wir sind morgen wieder daheim. Hab dich lieb«, sagte er routinemäßig.
»Ich dich auch.«
»Tschüss, Mom.«
»Tschüss.«
Auf dem Weg aus der Einfahrt winkte Kate, bis sie ihre Mutter nicht mehr sah. Dann drehte sie sich nach vorn. »Mom weiß gar nicht, was sie verpasst«, sagte sie.
»Tja, ich habe sie schon oft eingeladen mitzukommen. Aber dein Großvater war kein Jäger. Deshalb ist sie nicht damit aufgewachsen und versteht nicht, dass Jagen viel mehr ist als Töten. Schnall dich an, Süße!«
Den ersten Halt machten sie beim Piggly-Wiggly-Supermarkt. Jake wollte Honigkuchen fürs Frühstück. Cola für sich selbst, Dr Pepper für Katy. Marshmallows, Käseflips und eine Packung Eis für die Kühlbox vervollständigten den Einkauf. Katy schob den Einkaufswagen durch die Gänge und Jake belud ihn mit Junk-Food. Echte Jäger aßen keine gesunden Sachen wie Rosenkohl oder Spargel.
Die anderthalbstündige Fahrt ins Sumter County in Alabama verging wie im Flug. Das Sumter County war ein typischer ländlicher Verwaltungsbezirk, dessen Bewohner größtenteils von Land- und Forstwirtschaft und von der Jagd lebten. In der größten Stadt, Livingston, gab es genau drei Ampeln und ein uriges kleines College. Nach einem kurzen Anruf bei seiner Mutter suchte Jake im Radio den neuen Sender für klassische Countrymusik. Sie erinnerte ihn an seine Highschool-Zeit. Willie Nelson, Don Williams, Alabama – jeder alte Song löste eine Welle angenehmer Erinnerungen aus. Als Conway Twitty »That’s My Job«, auch »The Daddy Song« genannt, sang, bat er Katy, ihr Buch beiseitezulegen und zuzuhören. Jake liebte das alte Lied.
Auf den letzten fünf Meilen – Katy las mit einer Klemmlampe am Buch weiter – ging ihm durch den Kopf, wie glücklich er sich schätzen konnte, Mitglied in diesem Jagdclub zu sein. Angeblich waren auf dem Grundstück seit zehn Jahren keine Truthähne gejagt worden. Angeblich. Die acht Mitglieder waren nur an Hirschen interessiert. Jakes Freund Mick Johnson hatte den Vereinsvorsitzenden überredet, ihnen die Truthahnjagdrechte zu überlassen. Jake fand, sein Anteil daran, zwei Riesen im Jahr, sei ein echtes Schnäppchen. Wenn Morgan davon wüsste, würde sie der Schlag treffen. Aber sie wusste es nicht und würde es auch nicht erfahren. Er hatte schon immer ein paar geheime Nebenprojekte am Laufen gehabt, mit denen er seine Jagdleidenschaft finanzierte.
Das Clubhaus des Camps als »Baustelle« zu bezeichnen war großzügig. An das frühere alte Farmhaus waren so viele Räume angebaut worden, dass man nicht mehr sagen konnte, welcher Teil einmal was gewesen war. An sämtlichen Wänden hingen Neonreklameschilder für Biermarken. In der Mitte des Hauptraums stand ein alter Billardtisch. Das halbe Dutzend ausgestopfter Hirschköpfe war mit Hüten behängt. Jake war das zuwider. Er fand, die Hirsche verdienten mehr Respekt. Aber sie gehörten nicht ihm; deshalb behielt er seine Meinung für sich. Dies war ein typisches Südstaatencamp mit einer komplett ausgestatteten Bar, einer Satellitenschüssel und sämtlichen Playmate- und Sports-Illustrated-Badeanzugkalendern seit 1987.
Jake hatte seinen alten Airstream-Wohnanhänger hier herausgebracht, damit er nicht in einem fremden Bett in einem Raum voller Schnarcher schlafen musste. Der betagte silberne Wohnwagen war sauber und warm – ein Rückzugsort für kleine Fluchten aus seiner unsicheren Karriere, seiner schwierigen Ehe und vor den Geräuschen und Gerüchen der anderen Jäger. Hier am elektrischen Heizstrahler schlief er oft am ruhigsten. Das Liebes-U-Boot, wie er den Wohnwagen gerne nannte, stand neben dem Clubhaus und war an dessen Stromnetz angeschlossen. Es fügte sich perfekt in das Sammelsurium von alten Traktoren, Pick-ups und Lastanhängern ein. Jake bewunderte den John-Deere-2040-Traktor des Camps mindestens so sehr, wie seine Berufskollegen nach einem brandneuen Porsche gierten.
Tate Newsom war einer von Jakes Kollegen und Mitglied im Truthahnclub. Er würde früher mit der Arbeit Schluss machen, um für die Jagd am Samstagmorgen einen Vogel anzulocken. Jake hoffte, dass Tate ein Feuer angemacht hatte. Bei der Jagd morgen würden sie nur zu dritt sein. Tate jagte nicht allzu oft, aber er verstand sich blendend mit Katy. Er hatte eine Gabe dafür, Kinder zu unterhalten.
Durch die vielen Fahrten zum Camp hatte Jake das Mobiltelefonnetz im westlichen Alabama gut kennengelernt und wusste, dass sich auf dem Bergrücken gleich hinter der großen Mülldeponie die letzte Möglichkeit für einen Anruf bot. Mit nur zwei Balken auf der Anzeige rief er zu Hause an. Er wollte sagen, dass sie angekommen waren, damit Morgan sich keine Sorgen um Katy machte.
»Hallo.«
»Wir sind da«, sagte Jake in das Rauschen hinein.
»Hallo?«
»Wir haben es geschafft ... wir sind fast im Camp«, schrie er ins Telefon. Er hielt es sich vors Gesicht und starrte auf das Display.
»Okay ... Viel Spaß«, hörte er Morgan antworten.
»Werden wir haben.«
»Was?«
»Ich sagte, haben wir!« Jake wollte das Telefon am liebsten aus dem Fenster werfen.
»Okay.« Morgan konnte nicht ahnen, wie gereizt Jake war. Die Verbindung brach ab.
Jake hasste Handys. Wenn sie funktionierten, waren sie ganz nett. Aber im ländlichen Mississippi oder Alabama konnte man sich nicht auf sie verlassen. Jedes Mal, wenn seines klingelte, zuckte er zusammen. Normalerweise wollte dann jemand etwas von ihm oder teilte ihm mit, dass eine Sache nicht nach Plan lief. Oder es war Morgan und sie tat gleich beides. Mit einem tiefen Seufzer ließ Jake das Handy fallen und fuhr weiter.
Als er auf die letzte Schotterpiste vor dem Camp abbog, war es schon fast halb neun Uhr abends. Das weiße Reflektorband am schweren Metalltor an der Zufahrt strahlte im Schein von Jakes Scheinwerfern auf. Überrascht, dass das Tor geschlossen war, hielt Jake an.
Wo in aller Welt ist Tate?, dachte er, während er ausstieg und an dem Sicherheitsschloss herumfummelte.
Tate Newsom war frisch mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau verheiratet und tauchte oft nicht zur vereinbarten Zeit auf. Fünfundvierzig und fünfundzwanzig. Der Gedanke brachte Jake immer zum Lächeln. Vermutlich hatte Tate seine junge Frau zum Abendessen in den Country Club ausgeführt und würde spätestens um zehn hier sein. Jake fuhr durchs Tor und machte es hinter sich zu, schloss es aber wegen Tate nicht ab.