Einundfünfzig

Auf dem Weg zum Krankenhaus lehnte Ollie sich entspannt zurück. Er war erleichtert und die Anspannung wich aus seinem Körper. Er hatte ein wirklich scheußliches Szenario befürchtet. Ein vermisstes und dann ermordetes junges Mädchen wäre einerseits für die Region eine furchtbare Tragödie gewesen und hätte andererseits sofort für Schlagzeilen auf Bundesebene gesorgt. Und für eine pausenlose Medienpräsenz. Dieser Gedanke ließ Ollie erschauern. CNN und Fox News waren absolut erbarmungslos. Als sie sich vor ein paar Jahren über seine Ermittlungsarbeit hergemacht hatten, hatte Ollie das zunächst genossen. Er sah sich unheimlich gern im Fernsehen und die täglichen Pressekonferenzen waren Futter für sein wachsendes Ego. Als schließlich die Wahrheit ans Licht kam, musste Ollie feststellen, dass der riesige Hype wohl sein Urteilsvermögen schwer beeinträchtigt hatte. Er hatte sich geschworen, dass ihm das nie wieder passieren würde, und sich wieder ganz auf seinen Job konzentriert – mit Hilfe eines guten Therapeuten. Anscheinend hatte das Ende seiner Footballkarriere bei ihm ein »Anerkennungsdefizit« hinterlassen. Er hatte den Drang, sich wichtig zu fühlen und wichtig zu sein.

Das Golfturnier am vergangenen Tag hatte Ollie eine dringend benötigte Dosis Aufmerksamkeit beschert. In seinem Vierer hatte ein Radio-Talkmaster mitgespielt, der Ollies Footballzeit nur als kleiner Junge miterlebt hatte. Ollie konnte nicht anders – er mochte den Mann. Der Talkmaster hatte ihn bislang zu mindestens einem Dutzend Radiosendungen eingeladen, kannte alle seine Erfolge und konnte jeden einzelnen Spielzug der wichtigsten Begegnungen beschreiben. Ein Geschäftsmann hatte für das Privileg, in Ollies Team spielen zu dürfen, sogar einen Tausender hingeblättert. Ollie liebte solche Tage.

Mit blitzendem Blaulicht überquerte er einige Meilen vom Krankenhaus entfernt die Interstate 20. Er dachte darüber nach, was noch alles erledigt werden musste. Martha konnte bei der Kleinarbeit behilflich sein. Solange nur dem BeasleyMädchen nichts fehlte, würde alles andere schon irgendwie in Ordnung kommen.

Sheriff Marlow informierte die Fernsehsender in Tuscaloosa über die bevorstehenden bewegenden Ereignisse. Bei Lewis’ Ankunft konnten sie zwar noch nicht vor Ort sein – aber dennoch war die Geschichte gutes Schlagzeilenmaterial. Marlow würde sich in ein paar Jahren zur Ruhe setzen, brauchte diesen Erfolg also nicht unbedingt zur Förderung seiner Karriere. Eine Chance zur Eigenwerbung ließ er sich allerdings nie entgehen. Eine Kamera, die ihm nicht sympathisch war, musste erst noch erfunden werden.

In der Notaufnahme angekommen, bereitete er sich auf den Auftritt vor den Fotografen vor. Als Erstes ging er in die Herrentoilette und massierte sich einen Klecks Brylcreem ins graue Haar. Dann glättete er das gestärkte Hemd, das seinen Kugelbauch kaschierte. Er war stolz auf Lewis und musste sich eine Belohnung für ihn ausdenken – vielleicht ein Dinner in einem schicken Restaurant in Tuscaloosa. Diese Sache war das Aufstehen mitten in der Nacht eindeutig wert gewesen. Ich wette, Zach Beasley macht meine Steuererklärung in Zukunft umsonst. Er kontrollierte im Spiegel seine Zähne, dann marschierte er hinaus. Die Show konnte beginnen.

Martha O’Brien teilte Zach Beasley die gute Nachricht telefonisch mit. Er war überglücklich und machte sich umgehend auf den Weg zum Krankenhaus. Olivia brach in Tränen aus und versprach die Tillmans zu informieren. Martha rief eine befreundete Krankenschwester in der Notaufnahme an, um die Ergebnisse der Eingangsuntersuchung des Mädchens zu erfahren.

Hinterher ging sie hinaus vor die Eingangstür. Sie brauchte frische Luft und eine Zigarette – und noch eine Tasse Kaffee. Was für eine Nacht! Tanners Wunden würden mit der Zeit heilen und das Beasley-Mädchen war wieder da. Danke, lieber Gott!, dachte sie glücklich, trank den Kaffee aus, rauchte die Zigarette zu Ende und ging wieder hinein.

R.C. fuhr dicht hinter Ollie. Langsam kam alles wieder ins Lot. Die schlimmen Jungs mussten sie zwar noch fangen, aber sie hatten eine heiße Spur. Er war sicher, dass die Kerle bald gefunden würden, und er war stolz auf seine Entscheidung, die Dummy Line entlangzufahren. Damit war eindeutig bewiesen, dass er einen sechsten Sinn für die Polizeiarbeit besaß. R.C. hatte Ollie immer gemocht und ihn verstanden. Sie schätzten einander. Da R.C. keinerlei Ambitionen hatte, selbst Sheriff zu werden, vertraute Ollie ihm blind. Und als ergebener Deputy wusste R.C. genau, dass das die Basis ihrer guten Beziehung war. Lächelnd spulte er die Kassette vor bis zu »Copacabana«. Dann räusperte er sich, um laut mit Barry mitsingen zu können.

Gleichzeitig versank Deputy Larson in einer tiefen Depression. Das berauschende Hochgefühl, als Shug die Waffe gefunden hatte, war völliger Frustration gewichen, seit ihm der Kerl entwischt war, den er verfolgt hatte. Er hatte Martha das Fahrzeug beschrieben und das Kennzeichen durchgegeben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn wiederfanden, aber das verbesserte seine Laune nicht. Und als ob das nicht alles schon schlimm genug wäre, hatte der Deputy aus dem Hale County die Frau nur wenige Minuten, nachdem Larson seinen Beobachtungsposten verlassen hatte, gefunden. So viel Pech konnte auch nur er haben. Selbst über Funk spürte er die drückende Last von Sheriff Landrums Enttäuschung. Larson warf einen Blick über die Schulter. Shug lag auf dem Rücksitz und leckte sich.

Steve Tillman war überglücklich zu hören, dass man Elizabeth gefunden hatte. Er schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel und bat darum, dass sie nicht vergewaltigt worden war. Sie war so jung, sie sprühte vor Leben. Vor einem Monat hatte Tanner ihm erzählt, sie sei bei den Abschlusstests unter die besten zehn Prozent aller Highschool-Absolventen landesweit gekommen. Er hoffte, dass sie sich irgendwie hatte schützen können. Weil er in der Nähe des Schwesternzimmers stand, hörte er, wie die Stationsschwester jemanden anwies, einen Rollstuhl und eine fahrbare Trage zum Eingang zu bringen.

»Schon unterwegs!« Eine Pflegehelferin eilte aufgeregt aus der Tür.

Tillman folgte ihr, während Olivia Zachs Handynummer wählte und wartete, dass er sich meldete.