Vierundfünfzig

Als Lewis Washington, der Deputy des Hale-County-Sheriffs, mit dem Streifenwagen in den Krankenhausparkplatz einbog, staunte er über die Menschenansammlung, die seine Ankunft erwartete. Mit einem schnellen Blick in den Rückspiegel überprüfte er, ob sein Haar richtig saß. Dann drehte er sich zu der Frau auf dem Rücksitz um. Warum sie ohnmächtig geworden war, wusste er nicht. Das musste jemand anderes feststellen. Seine Arbeit war erledigt. Er schaltete die Sirene aus, ließ das Blaulicht aber an und fuhr unter das Vordach der Notaufnahme.

Ollie hatte Lewis beinahe eingeholt, war nur etwa sechzig Sekunden hinter ihm. Er wusste, dass eine ganze Meute auf sie wartete. Immer wieder sagte er sich, dass es in erster Linie um Elizabeth Beasley ging. Was sonst noch passierte oder wer immer die Lorbeeren für ihre Rettung einheimste, war zweitrangig. Was zählte, war ihr Wohlergehen. Es ging nun vor allem um sie. Ollie hoffte nur, dass Marlow nicht wie immer herumtrickste, um bei der Pressekonferenz auf seine Kosten gut dazustehen.

»Ich bin da, Miz Martha«, sagte er. Dann hängte er das Mikrofon in die Halterung.

»Roger, Sheriff.«

Ollie parkte den Expedition neben Lewis’ Wagen. Beim Aussteigen beobachtete er die Szene, die sich unter dem Vordach abspielte. Schwestern und Pfleger versammelten sich um Lewis’ Wagen und versuchten Elizabeth vom Rücksitz zu heben. Die Nachrichtenleute rangelten um die besten Plätze für Filmaufnahmen. Vorn am Wagen stand Lewis und sprach mit Sheriff Marlow. Gestenreich beschrieb er, wie dramatisch und gefährlich die letzten zwanzig Minuten gewesen waren. Während das Chaos seinen Höhepunkt erreichte, ging Ollie an der Menschenansammlung vorbei.

Beim Anblick der gefesselten Frau, deren Augen und Mund noch immer mit Klebeband verschlossen waren, hielt die Menge die Luft an.

Marlow ging sofort auf den überraschten Lewis los. »Sie Idiot! Warum zum Teufel haben Sie ihr das Klebeband nicht abgenommen?«, brüllte er wütend. »Wie sieht denn das aus?!«

»Ich hatte es so eilig ... Ich habe gar nicht daran gedacht, Sheriff«, versuchte Lewis zu erklären.

Ollie hatte schon die halbe Länge des Vordachs hinter sich, als er einen Mann schreien hörte. Zach und Olivia Beasley fielen sich in die Arme, als wäre etwas Schreckliches passiert. Was zum Teufel ist denn jetzt wieder los? Die sollten sich doch freuen! Ollie stürzte an ihre Seite.

»Was ist los, Zach?«, fragte er. Die Pfleger legten die Frau auf eine Trage.

»Das ist nicht Elizabeth!«, schrie Zach Beasley.

»Wie bitte?«, rief Ollie.

»Das ist sie nicht!«, antwortete Zach Beasley. »Das ist nicht Elizabeth!«

»Wo ist mein Baby?«, schrie Olivia Beasley Ollie an. Zach legte den Arm um sie und versuchte sie zu beruhigen. Dabei konnte er selbst kaum einen klaren Gedanken fassen.

Ollie stand wie erstarrt. Die Trage mit der mysteriösen Frau wurde an ihm vorbeigeschoben. Sie war ganz offensichtlich traumatisiert. Wer zum Teufel ist das?

Steve Tillmans und Ollies Blicke trafen sich. Tillman hatte die Trage auch gesehen. Seine Augen sagten alles. Diese schreckliche Nacht war noch viel schlimmer als alles, was sich irgendjemand vorstellen konnte. Ollie verstand überhaupt nichts mehr. Er musste herausbekommen, wer die Frau war und woher sie stammte. Die Beasley-Ermittlung musste völlig neu aufgerollt werden. Er stand in der offenen automatischen Tür und überlegte, was er nun als Erstes tun sollte.

R.C. stieg aus dem Streifenwagen, ging mit elastischen Schritten zum Krankenhaus und summte dabei eine Melodie. Als er unter dem Vordach ankam, sang er laut: »His name was Rico; he wore a diamond.« In diesem Moment bemerkte er Ollies Gesichtsausdruck und hörte sofort wieder auf zu singen. »Stimmt was nicht, Chief?«, fragte er.

Ollie sah R.C. an, dann starrte er zu Boden. »Es ist nicht Elizabeth.«

»Was? Unmöglich!«

»Geh rein und finde raus, wer die Frau ist und was zum Teufel hier vor sich geht! Ich bleibe hier. Ich will erst mit den Jungs vom Hale County reden.«

»Ja, Sir!« R.C. hetzte ins Krankenhaus.

Ollie warf einen Blick in die Lobby. Sheriff Marlow befand sich bereits im Schadensbegrenzungsmodus und stand beim Chefredakteur des Sumter County Journal. Ollie sah, dass ihm die Worte fehlten.

»Sheriff?« Ollie ging zu den beiden Männern.

»Entschuldigen Sie mich, aber ich habe jetzt eine Besprechung mit Sheriff Ollie Landrum.« Marlow war froh, der Salve von Fragen zu entkommen. Die Sache verlief absolut nicht nach Plan.

Gekonnt schob Ollie Marlow und Lewis in einen Abstellraum des Hospitals. Bevor Ollie hineinging, fing er einen Blick von Zach Beasley und Steve Tillman auf. »Ich bin gleich wieder da, dann reden wir.«

»Was ist los, Ollie? Wie viele vermisste Mädchen gibt es in eurem verdammten County?«, fragte Marlow aggressiv. Dass er Ollie die alleinige Verantwortung zuschieben wollte, war sonnenklar.

»Keine Ahnung, Marlow. Ich verstehe gar nichts mehr. Ich will hören, was er zu sagen hat.« Mit dem Kopf deutete er auf Lewis, der etwas von Bauchgefühl brabbelte und dass er zum Wohntrailer gefahren sei, um sich dort umzusehen. Ollie fixierte ihn. Er spürte es, wenn ihm jemand irgendwelchen Blödsinn auftischte. Dieses Gestammel ergab keinen Sinn. Die Jahre mit R.C. und Larson hatten Ollie mit äußerst sensiblen Sensoren für Schwachsinn ausgestattet. »Und wer hat dem Zeitungsheini einen Tipp gegeben, Marlow?«, fragte er erbost.

»Ich musste ihn wegen einer anderen Sache anrufen und habe wohl erwähnt, weshalb ich hier im County bin. Das ist alles«, erklärte Marlow.

»Hören Sie! Wir haben hier eine Krise und ich brauche Ihre Hilfe. Diese Ermittlung ist kein Picknick. Ich muss wissen, wer das Mädchen ist und was sie mit dem ganzen Chaos zu tun hat. Anschließend fangen wir noch mal von vorn an. Marlow, sagen Sie Ihren Leuten Bescheid. Sie müssen wieder ausrücken«, befahl Ollie. Er hatte das Kommando übernommen.

Marlow nickte belämmert.

Ollie öffnete die Tür, dann eilte er den Flur entlang. Er suchte R.C. und das mysteriöse Opfer. Im Vorbeigehen bat er die Beaselys, sich noch einen Moment zu gedulden. Er versprach, bald zurückzukommen. Es dauerte nicht lange, bis er alle gefunden hatte. Das Krankenhaus war nicht groß und die Menge hatte sich vor Behandlungszimmer zwei versammelt. Ollie öffnete die Tür und sah, wie Dr. Sarhan die Frau mit dem Stethoskop abhorchte. Auf dem Boden lag das Tarnmusterklebeband. R.C. versuchte die Arzthelferin zu befragen, bekam aber keine verwertbaren Antworten.

»Warten Sie, bis Untersuchung fertig. Dann können Sie fragen«, sagte Dr. Sarhan mit einem starken indischen Akzent zu R.C., sah dabei aber Ollie an.

Ollie gab R.C. ein Zeichen, er solle aufhören. Dann bückte er sich und schnappte sich die Klebebandstücke. Die Frau schien mindestens dreißig Jahre alt zu sein – vielleicht auch älter. Sie kam gerade wieder zu sich. Er kannte sie nicht.

»Geben Sie paar Minuten, Sheriff, bitte!«, sagte Dr. Sarhan.

»Komm, R.C.« Ollie atmete tief durch und winkte R.C. zu sich. Gemeinsam gingen sie zurück in den Flur.

»Hast du was herausbekommen?«, fragte Ollie.

»Der Doc glaubt nicht, dass sie vergewaltigt wurde. Er war stinkig, weil ihr niemand das Klebeband abgenommen hat. Hätte mir deshalb fast den Kopf abgerissen. Was hat dieser ... Deputy sich bloß dabei gedacht?«

»Greenhorn«, erwiderte Ollie. »Sonst noch was?«

»Nein, Sir.«

»Du kennst sie auch nicht, oder?« Ollie rieb seinen schmerzenden Kopf. Den Hut hielt er in der Hand.

»Hab sie noch nie gesehen. Daran würde ich mich erinnern.« Damit spielte er auf ihr gutes Aussehen an. »Willst du ein Tums?« R.C. schnippte eine Tablette gegen Sodbrennen in seinen Mund und hielt Ollie die Rolle hin.

»Ja.«

»Wie lautet mein nächster Auftrag?« R.C. gab Ollie die Rolle.

Ollie sah die Beasleys auf sich zustürmen. Er wusste, dass er ihnen nicht länger ausweichen konnte.

»Bring Miz Martha auf den neuesten Stand der Dinge! Wir treffen uns gleich draußen«, sagte Ollie. »Sie soll alle anrufen und aufwecken, die ihr einfallen, auch den Wildhüter. Wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können.«

»Roger.« R.C. griff nach seinem Handy und ging eilig zum Ausgang.

»Ollie! Was zum Teufel ist hier eigentlich los? Was unternehmen Sie, um Elizabeth zu finden?« Zach stürzte sich direkt auf ihn.

»Im Moment versuchen wir das Suchgebiet einzugrenzen, auf das wir uns konzentrieren. Die Lage ist ziemlich verworren. Alle dachten, die Frau sei Elizabeth.« Ollie wich dem Blickkontakt aus und sah zu Boden. »Geben Sie mir bitte ein paar Minuten, um herauszufinden, wer die Frau ist und welche Rolle sie in dem ganzen Szenario spielt.«

»Sie brauchen Hilfe, Sheriff. Sie sollten das FBI einschalten. Das hier ist eine ernste Sache. Wir sprechen von meiner Tochter«, sagte Zach Beasley eisig.

»Ja, Sir. Ich habe ... wir sind ... Augenblick, bitte.« Stammelnd suchte Ollie nach den richtigen Worten.

Zach wartete nicht, bis er ausgeredet hatte. Er stapfte davon und suchte nach Sheriff Marlow.

Als Ollie den Kopf hob, sah er, wie R.C. sein Telefongespräch beendete und zum Krankenhaus zurückkam. Er winkte ihn zu sich. Zusammen gingen sie zu Steve Tillman.

»Wie geht es Tanner, Sir?«, fragte Ollie, den Hut in den Händen.

»Keine Veränderung. Aber sein Zustand ist stabil ... Ich war ehrlich gesagt ziemlich schockiert, dass das Mädchen nicht Elizabeth ist, Sheriff.«

»Ja, Sir. Ich auch. Gilt Ihr Angebot noch, mit uns zu Ihrem Grundstück zu fahren?«

»Ich tue alles, wenn ich nur helfen kann, Ollie.« Tillmans Angebot war aufrichtig gemeint.

»R.C., Mr Tillman besitzt ein Grundstück an der Dummy Line. Dort könnten die Kids gewesen sein. Nimm Mr Tillman mit und seht euch dort um. Seid vorsichtig. Und ruft mich an, wenn ihr irgendetwas seht.«

»Geht klar ... Kommen Sie, Mr Tillman.«

»Ich muss meiner Frau Bescheid sagen. Ich bin gleich wieder da.« Tillman ging davon.

Ollie warf einen Blick zurück zum Behandlungszimmer zwei. Dort war man noch immer mit der geheimnisvollen Frau beschäftigt. Wer zum Teufel ist das? Er sah R.C. durch die automatische Tür nach draußen gehen. Ein Stück weiter standen die Beasleys. Sie waren kurz vor dem Explodieren. »Wo ist Sheriff Marlow?«

Ollie musste nur einen Schritt auf den Ausgang zugehen, um den Übertragungswagen zu sehen. Die Fernsehkamera war auf Sheriff Marlow gerichtet. »Verdammt«, murmelte er und zeigte auf den Ausgang. Als Dr. Sarhan ihm winkte, kehrte Ollie zurück zum Behandlungszimmer zwei. Der Doktor bat ihn hinein.

»Ich glaube, sie wird bald wieder in Ordnung sein ... körperlich. Aber mental? Ziemlich viel Trauma.«

»Wurde sie vergewaltigt?«, fragte Ollie leise.

»Nein. Ich sehe keine Anzeichen für körperlichen Missbrauch.« Dr. Sarhan zog die Handschuhe aus und warf sie in den Müll. »Sie können mit ihr reden«, sagte er und verließ den Raum.

Ollie war mit der mysteriösen Frau allein. Ihre Blicke trafen sich. Er zückte seinen Notizblock, setzte sich neben sie auf einen Hocker und lächelte freundlich. »Ma’am. Ich bin Sheriff Ollie Landrum. Ich muss wissen, wer Sie sind und was passiert ist.«

»Wo bin ich?«, fragte sie.

»Sie sind im Krankenhaus in Livingston.«

»Livingston? Alabama?«

»Ja, Ma’am.« Er merkte, wie verwirrt sie war. »Wollen Sie mir nicht sagen, wer Sie sind?«

»Ich heiße Lindsay Littlepage. Ich wohne in West Point, Mississippi ... Ich muss meinen Mann anrufen«, erklärte sie schleppend.

West Point! Ollie horchte auf. Das konnte kein Zufall sein. Er dachte an Mick und seinen Freund.

»Wie sind Sie hierhergekommen? Was ist passiert?«

»Mein Mann ist geschäftlich unterwegs und meine Kinder übernachten bei Freunden. Deshalb war ich allein zu Hause, und dann ... dann ... dann ...« Sie wurde ganz aufgeregt.

Ollie brauchte Informationen. Er durfte sie nicht zu sehr unter Druck setzen. »Sie sind in Sicherheit, Ma’am. Lassen Sie sich Zeit. Aber Sie sollten wissen, dass weitere Leben in Gefahr sind. Deshalb muss ich Sie befragen, das verstehen Sie doch?«, sagte er sanft.

Sie nickte und fuhr fort. »Irgendein Kerl ist in unser Haus eingebrochen und hat mich bedroht. Er hat mich mit Klebeband gefesselt und hinten in seinen Van gepackt. Vielleicht war es auch ein Geländewagen. Er sagte, mein Mann habe jemanden umgebracht ... aber das ... das kann doch nicht sein.«

Ollie hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen.

»Er ist stundenlang mit mir herumgefahren und dann hat er mich in ein dunkles ... ein dunkles Zimmer gesteckt.« Sie fing an zu weinen. »Ich muss meinen Mann anrufen. Bitte.«

»Ja, Ma’am. Das dürfen Sie gleich. Versprochen. Ich muss nur erst noch den Rest erfahren.«

Sie wischte sich die Augen ab. Eine Schwester kam herein und sah nach ihr. Ollie bat die Frau weiterzuerzählen.

»Na ja, erst ließ er mich dort, dann kam er zurück ... und sagte, er würde seine Freunde holen ... Als er danach wiederkam, klebte er mir die Augen zu und sagte, ich solle immer geradeaus laufen, dann würde ich am Leben bleiben. Immer geradeaus, das war ihm wichtig. Aber ich konnte bloß meine Füße sehen, und das auch nur ein kleines bisschen. Es war schrecklich.«

»Ja, Ma’am«, sagte Ollie.

Erneut kamen ihr die Tränen. »Dann hat der Polizist mich gefunden. Bitte danken Sie ihm von mir.«

»Kennen Sie ...« Ollie blätterte ein paar Seiten zurück, um den Namen noch einmal nachzulesen. »Kennen Sie jemanden namens Jake Crosby?«

Ihre Augen weiteten sich. Dann erwiderte sie: »Das ist unser Nachbar ... Er und mein Mann sind gute Freunde ... Sie jagen zusammen.«

Ollie stieß die Luft aus. Verdammt. Wie passt das alles zusammen? Er musste Mick anrufen.

»Ruhen Sie sich ein bisschen aus, Mrs Littlepage. Ich schicke Ihnen einen weiblichen Deputy. Die Frau hilft Ihnen, Ihren Mann zu erreichen, okay? Sie sagten, er sei auf Geschäftsreise. Wo ist er denn?« Ollie zückte seinen Stift.

»In Biloxi. Bei einer Tagung. Er ist Pharmareferent.«

»Vielen Dank, Ma’am. Ich weiß, Sie haben heute Nacht Schreckliches durchgemacht. Wir helfen Ihnen, Ihren Mann zu erreichen. Versprochen.«

Ollie stand auf und berührte sanft ihre Hand, um ihr damit zu sagen, alles würde wieder gut. Als er den Raum verließ, kam eine Krankenschwester herein. In dem durchsichtigen Miniplastikbecher, den sie in der Hand hielt, befand sich eine pfirsichfarbene kleine Pille.