Sechsundsechzig
Als der Anruf aus der Dienststelle des Clay-County-Sheriffs kam, leerte Martha O’Brien gerade eine neue Tasse Kaffee. Sie legte die Hand über den Hörer und stieß einen lauten Pfiff aus. Ollie blickte von der Landkarte auf. Martha zeigte hektisch auf das Telefon. Rasch ging Ollie in sein Büro, um den Anruf dort entgegenzunehmen.
Sheriff Marlow grinste angesichts von Marthas Eifer. Es war Zeit, die Medienvertreter auf den neuesten Stand zu bringen. Nach einem kurzen Gang zur Toilette, wo er den Sitz seiner Frisur überprüfte, ging Marlow hinaus und versammelte die Medienleute um sich.
Ollie griff nach dem Hörer. »Sheriff Landrum.«
»Sheriff – wir waren im Haus der Littlepages. Die Telefonleitung wurde durchtrennt, die Scheibe an der Haustür von einem Profi eingeschlagen und im Schlafzimmer gibt es Hinweise auf einen Kampf. Wir schicken später ein Team hin, das die Fingerabdrücke sichert. Das ist im Augenblick alles« sagte der Deputy am anderen Ende der Leitung.
»Danke. Gibt es was Neues von den Crosbys?«
»Sie wissen ja, dass die Crosbys direkt nebenan wohnen. Wobei ihr Haus etwa hundertfünfzig Meter entfernt ist. Als wir ankamen, telefonierte die Crosby-Lady gerade mit Scott Littlepage. Sie wirkte ziemlich schockiert.«
»Hatte sie mit ihrem Mann gesprochen?«
»Nein. Sie hat versucht, ihn zu erreichen, während wir dort waren. Er ist zusammen mit ihrer neunjährigen Tochter in seinem Jagdclub. Auf Truthahnjagd.«
Damit bestätigten sich Ollies Vermutungen. Die Sache wurde immer schlimmer. Ein neunjähriges Mädchen. Ollie grunzte seinen Unmut ins Telefon.
»Beide Familien sind in ihrem Umfeld beliebt und angesehen. Sind nie irgendwie negativ aufgefallen.«
»Ja ... verstehe. Aber irgendwo muss es eine Verbindung geben.«
»Soweit ich verstanden habe, ist Scott Littlepage bereits unterwegs. Aber es dauert noch ein paar Stunden, bis er da ist.«
»Okay. Ich brauche jetzt Ihre Hilfe. Lassen Sie Mrs Crosby nicht weg. Vermutlich möchte sie gerne hierherkommen, aber verhindern Sie das bitte! Sagen Sie ihr, sie muss daheim am Telefon bleiben. Ihr Mann könnte sich melden. Ich habe jetzt schon alle Hände voll zu tun und für uns ist sie bei sich zu Hause nützlicher. Ich halte Sie auf dem Laufenden. Wie lautet Ihre Handynummer?«
Ollie versprach Bescheid zu geben, wenn es etwas Neues gab, und legte auf. Er war noch besorgter als zuvor. Ich muss allen sagen, dass nun auch noch ein Kind in die Sache verwickelt ist. In was eigentlich? Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was dort draußen vor sich geht. Vielleicht frage ich erst einmal R.C., ob sie etwas entdeckt haben.
»Miz Martha?«
»Ja, Sheriff?«
»Bitte holen Sie mir R.C. ans Funkgerät!«
Ollie lehnte sich zurück. Was für eine Katastrophe! Er notierte ein paar Informationen, die Martha an die Beamten vor Ort weitergeben sollte. Außerdem wollte er wissen, ob sich bei der Fahndung nach dem Mann aus Tupelo bereits etwas ergeben hatte. Nachdem er seine Notizen noch einmal überprüft hatte, brachte er sie zu Martha in den Vorraum.
»Sorgen Sie bitte dafür, dass diese Informationen an alle rausgehen.«
»Ja, Sir. Ich kann R.C. über Funk nicht erreichen. Ich weiß, er benutzt ein Handgerät. Vielleicht ist er gerade in irgendeiner Senke oder so.«
»Versuchen Sie es weiter.« Ollie überlegte kurz, beschloss aber, sich wegen R.C. im Moment keine Gedanken zu machen. Mit einer einfachen Erklärung, warum R.C. über Funk nicht erreich bar war, rechnete er sowieso nicht. R.C. kam stets mit den abenteuerlichsten Ausreden an.
Ollie kehrte in sein Büro zurück und wählte Mick Johnsons Nummer. Mick nahm beim dritten Klingeln ab.
»Kein Problem. Ich habe nicht geschlafen«, sagte Mick, als Ollie sich entschuldigte, weil er so früh am Morgen störte. »Ich ziehe gerade meine Stiefel an. Ich wollte jagen gehen, aber ich habe verschlafen. Gibt es was Neues von Jake?«
»Hinter seinem Anruf bei Ihnen könnte mehr stecken, als wir dachten, Mick. Vielleicht brauche ich Ihre Hilfe für eine Suchaktion. Elizabeth Beasley, ein achtzehnjähriges Mädchen hier aus der Gegend, wird vermisst. Und eine Frau namens Littlepage aus West Point wurde draußen auf dem Land gefunden. Man hatte sie entführt.«
»Littlepage? Ich kenne einen Scott Littlepage. Jake hat uns einander vorgestellt. Die beiden sind im selben Jagdclub!«
»Die Entführte ist seine Ehefrau. Aber sie konnte fliehen. Die ganze Sache ist furchtbar verwirrend. Können Sie herkommen?«
»Klar. Bin schon unterwegs, Sheriff.«
»Danke.« Ollie legte auf und starrte das Telefon an. Er drückte den Knopf für Marthas Anschluss.
»Haben Sie inzwischen etwas von R.C. gehört?«
»Nein, Sir.«
»Verdammt.«
Ollie hörte, wie die Eingangstür geöffnet wurde, und blickte auf. Sheriff Marlow kam laut lachend herein.
»Hey, Ollie. Wir brauchen ein Podium. Kann jemand vom College hier in der Stadt eins rüberbringen?«
»Wir brauchen kein Podium – wir müssen zwei vermisste Mädchen finden.« Ollie schäumte vor Wut. Am liebsten wäre er Marlow an die Gurgel gegangen.
»Mädchen? Mehrzahl?«
»Ja. Mir wurde gerade bestätigt, dass Jake Crosby, der Typ aus dem Jagdclub, seine neunjährige Tochter bei sich hat.«
»O Mann ... ähm, gut. In einer Stunde ist der Hubschrauber da. Das bringt uns sicher weiter. Und übrigens – CNN und Fox schicken Übertragungsteams.«
»Was? Weshalb?«, fragte Ollie ungläubig. Das Interesse der örtlichen Medienvertreter konnte er verstehen. Aber CNN?
»Na ja, denen ist natürlich nicht entgangen, dass wir den Hubschrauber des Gouverneurs für die Suche benutzen.«
Ollie warf Marlow einen düsteren Blick zu. Dann ließ er ihn stehen.
Vor seiner Bürotür hielt er an und wandte sich um. »Diese Kinder zu retten ist jetzt viel wichtiger als die Wiederwahl des Gouverneurs, Marlow.«
Ollie wollte selbst kaum glauben, was er da gesagt hatte. Aber er hatte es getan. Es war ihm einfach herausgerutscht. Er stieß den Atem aus, drehte sich um, ging in sein Büro und knallte die Tür zu.
Marlow wusste nicht, was er sagen sollte. Hektisch sah er sich um. Alle drehten sich weg und gaben sich sehr beschäftigt. Er wurde rot vor Wut und beschloss, es sei an der Zeit, noch einmal mit den Medien zu reden. Trotzig sagte er zu jedem und niemand: »Anscheinend hat keiner hier eine Ahnung, was dazugehört, im einundzwanzigsten Jahrhundert Polizeiarbeit zu machen.«