Fünfzehn

»Sieh mal nach, ob du in deinem elenden Wrack etwas gegen Kopfschmerzen findest«, sagte Ollie zu R.C.

Ollie wusste nicht, was er tun sollte. Wie schon einmal vor Jahren musste er eine grundlegende Entscheidung treffen und wollte es am liebsten nicht wahrhaben. Vor allem nicht in dieser Nacht. Er war todmüde und die Kopfschmerzen brachten ihn fast um. Beim Golfturnier hatte er den ganzen Tag über in der Sonne herumgestanden und getrunken. Sein Team hatte beim Vierer glorreich versagt. Am achten Loch hatte er sich sogar Bälle ausleihen müssen. Ollie spielte nur zweimal im Jahr Golf, und das ließ sich nicht verleugnen. Das Spiel begeisterte ihn, doch am liebsten saß er gemütlich auf der Couch und sah den Profis im Fernsehen dabei zu.

Vor ein paar Jahren war eines der Lieblingssöhnchen des Sumter Countys mitten in der Nacht von zu Hause ausgebüchst, um mit den professionellen Bullenreitern von Rodeo zu Rodeo zu ziehen. Mit gerade mal fünfzehn Jahren. Von seinen Plänen hatte der Junge niemandem erzählt. Seine Familie hatte ihn am nächsten Tag als vermisst gemeldet und so viel Wind gemacht, dass Ollie das FBI-Büro in Alabama eingeschaltet hatte. Die Offiziellen aus Alabama hatten dann das Bundes-FBI dazu geholt, weil sie fest von einer Entführung ausgegangen waren. Fox News schickte einen Satellitenübertragungswagen; Ollie informierte dreimal täglich live im Fernsehen über den neuesten Stand der Ermittlungen. Nach einigen nervenaufreibenden Tagen erhielten die Eltern des Jungen völlig überraschend einen Anruf aus der Notaufnahme des Wadley Regional Medical Center in Texarkana, Texas. Ihr Sohn würde dort gerade wegen eines Schlüsselbeinbruchs behandelt, hieß es, den er sich bei einem Provinz-Rodeo zugezogen hatte.

Ollie war zutiefst beschämt gewesen und das Gefühl hatte er bis heute nicht vergessen. Das ganze County zog ihn damit auf, dass der junge Cowboy auf einem Pferd aus der Stadt geritten sei, während Ollie nach verdächtigen Fahrzeugen Ausschau gehalten hatte. Der Vorfall wurde als die »Sumter-County-Entführung« bekannt und war Ollie noch immer sehr peinlich. Dabei hatte er eigentlich nichts falsch gemacht. Was ihm passiert war, hätte jedem x-beliebigen Sheriff in jedem x-beliebigen Distrikt passieren können. Aber Ollie war mit dem dramatischen Flair und dem Eifer eines Fernsehevangelisten vor die Kameras getreten. Seine Kollegen sagten gerne, wenn seine Karriere als Gesetzeshüter einmal in eine Sackgasse geriete, stünde ihm immer noch eine große Zukunft als Küchenmesserverkäufer bei einem Shopping-Fernsehsender offen. Dabei war Ollie ein sehr guter Sheriff mit einem hervorragenden Reaktionsvermögen. Einmal hatte er während seines Urlaubs einen Verbrecher nur mithilfe eines Notfall-Defibrillators überwältigt. Immer wenn der Dieb versucht hatte zu entkommen, hatte Ollie ihm wieder einen Stromstoß versetzt. Der Mann hatte schließlich um Verzeihung gefleht und einfach nur wimmernd dagelegen, bis die örtlichen Polizeikräfte eingetroffen waren.

»Geht klar, Chief. Ich glaube, ich habe was im Wagen.« R.C. studierte die Busenkalender wie ein Kunststudent die Monets in der Nationalgalerie. »Ich hole es dir.«

R.C. machte Ollies Kopfschmerzen noch schlimmer, aber wenn er ein Verbrechen witterte, war er ein ziemlich cleverer Cop. Dass ihn die momentane Situation ziemlich kaltließ, zerstreute zum Teil auch Ollies Bedenken.

»Ich glaube, wir warten besser bis morgen früh. Dann können wir diesem Jake zu einer vernünftigen Uhrzeit auf den Zahn fühlen. Ehrlich gesagt – es fehlt uns an Hinweisen auf ein Verbrechen, Mick.« Er seufzte tief und hoffte, Mick würde ihn verstehen. Ollie glaubte ihm zwar, was er über Jake sagte, hatte aber zu oft erlebt, dass Männer zu viel tranken und die verrücktesten Dinge taten, sobald sie ohne ihre Frauen loszogen. Und für die Typen, die ständig in irgendwelchen Büros eingepfercht waren, galt das ganz besonders. Sie waren die schlimmsten von allen.

Mick wusste nicht, was er denken sollte. Mit so etwas hatte er keine Erfahrung. Deshalb war er geneigt, sich Ollies Meinung anzuschließen. Ollie ist schließlich der Fachmann und weiß, wie man mit solchen Situationen umgeht, dachte er. So sehr er sich auch bemühte – es gelang ihm nicht, in den wenigen Worten, die er von Jake aufgeschnappt hatte, einen Sinn zu erkennen. Er war ziemlich ratlos und furchtbar müde.

»Hier, bitte, Chief.« R.C. reichte dem Sheriff ein Päckchen und stemmte die Hände in die Hüften.

Ollie gelang es nicht einmal, R.C einen finsteren Blick zuzuwerfen. Er war einfach zu geschafft.

»Meinen Sie, die Jungs haben etwas dagegen, wenn wir uns ein Coke nehmen?«, fragte R.C. Mick nach einem Blick in den Kühlschrank.

»Sicher nicht.« Mick rückte seine Mütze zurecht.

»Ich könnte die Straßen in der Gegend abfahren, Chief, und nachsehen, ob es irgendetwas Verdächtiges gibt. Ich habe ja sonst nichts zu tun.« R.C. gab Ollie etwas zu trinken, damit er das Pulver hinunterspülen konnte. »Die Waldwege sind für meinen Streifenwagen viel zu aufgeweicht.«

Ollie warf einen Blick auf die Uhr. Was in aller Welt tue ich um diese Zeit hier draußen? Ich sterbe, und R.C. ist so heiß darauf loszulegen wie ein Welpe mit zwei Pimmeln. Ollie schätzte R.C.s Eifer. Er sah zu, wie sein Deputy eine lilafarbene Pille aus der Tasche zog und sie mit einem Schluck Coke hinunterspülte.

»Hatte eingelegte Wachteleier zum Abendessen, und die bringen mich jetzt fast um. Höllisches Sodbrennen«, sagte R.C. als Antwort auf Ollies fragenden Blick.

Ollie dachte angestrengt nach. »Nein. Ich glaube, wir warten, bis es hell ist. Im Moment können wir nicht viel tun. Zieh ein Absperrband um alle Blutlachen, die du erkennen kannst. Oder riegle am besten gleich die ganze Einfahrt ab. Wir sehen uns die Sache dann später bei Tageslicht genauer an.

»Wollen Sie nicht heimfahren und sich hinlegen, Mick? Falls wir irgendetwas finden, sage ich Bescheid. Um acht rufe ich als Erstes die Polizei in West Point an. Die sollen zum Haus Ihres Freundes fahren. Mit ein bisschen Glück finden wir dann heraus, dass der »Notfall« ein verlorenes Pokerspiel war, für das er sich Geld leihen wollte. Genau. Ich wette, er hat sich bei einer Runde Texas Hold’em um Kopf und Kragen gespielt.«

»In Ordnung ... bitte melden Sie sich«, sagte Mick. Er vertraute dem Sheriff, beschloss aber bei einer Landkneipe vorbeizufahren, die auf seinem Nachhauseweg lag, und nachzusehen, ob Jakes Truck dort stand. In dem Fall wäre ich stinksauer, dachte er.

Er stemmte sich hoch. An der Tür blieb er stehen, horchte in die Nacht hinaus und dachte nach. Außer einer Nachtschwalbe in der Ferne hörte er nichts. Mick wandte sich noch einmal um und sagte: »Sicher haben Sie recht, Ollie ... Ich wünschte bloß, die Verbindung wäre nicht so schlecht gewesen.«

»Das verstehe ich. Aber Sie können die Sache ruhig uns überlassen. Ich halte Sie auf dem Laufenden. Versprochen«, antwortete Ollie.

»Bis bald, Mick«, sagte R.C.

Als Mick den Motor seines Trucks anließ, stand Ollie auf. »Ich gehe jetzt heim«, sagte er. »Ich muss dringend schlafen und du solltest dasselbe tun. Später rufe ich ein paar Leute an. Du bleibst am besten daheim. Kann sein, dass ich dich noch mal brauche.«

»Kein Problem. Eigentlich wollte ich sehen, ob ich gleich morgens ein paar Sonnenbarsche erwische. Aber ich kann auch später angeln gehen.«

»Beißen sie denn?« Ollie schlug nach einem Insekt.

»Anscheinend. Irgendein Idiot hat sich gestern am späten Nachmittag bei einem Streit um ein Angelloch einen Messerstich eingefangen. War angeblich ein Unfall.« Beim letzten Wort deutete R.C. mit den Fingern Anführungszeichen an.

»Ich will es gar nicht wissen.« Ollie rieb sich die Stirn und ging hinaus.