Zweiundachtzig
Jake hörte, dass seine Verfolger am Rand des Baches zögerten. Los doch, nur noch ein paar Schritte. Mit zusammengebissenen Zähnen lauschte er. Er wartete auf das Platschen, wenn sie ins Wasser wateten.
Plötzlich zerrissen die entsetzten Schreie der Mädchen die Stille. Jake erstarrte. Angestrengt schaute er in ihre Richtung, sah jedoch nur den nachtschwarzen Sumpf – sonst nichts. Er hörte einen der Männer etwas murmeln, bevor er ins Wasser stieg. Jetzt hatte er sie da, wo er sie haben wollte – aber Katy war in Gefahr. Katy! Was zum Teufel ist los? Warum schreien die beiden so? Unwillkürlich sah Jake Katy und Elizabeth vor sich – in den Händen dieser Wahnsinnigen. Dabei waren die Ungeheuer doch keine sieben Meter von ihm entfernt! Hier und jetzt! Jake zitterte so sehr, dass er sicher war, die Gangster würden es hören – selbst über das Platschen des Wassers hinweg. Einen Sekundenbruchteil vor seinem geplanten Angriff zuckte die grauenhaft lebhafte Vorstellung von Katy in der Gewalt dieser Unholde durch sein Gehirn. Ohne einen Blick zurück sprintete Jake zu den Mädchen. Er rannte mit vollem Krafteinsatz.
»Shit! Wer ist das? Hey, kommen Sie zurück!«, hörte Jake jemanden ungläubig rufen. Die Männer schrien wirres Zeug, dann spritzte Wasser.
»Elizabeth! Elizabeth!«, rief ein Mann, während Jake durch Ranken und Zweige pflügte, um zu den Mädchen zu gelangen. »Elizabeth! Ich bin’s! Steve Tillman!«
»Mr Tillman? Sind Sie das?«, antwortete Elizabeth.
»Ja! Ja! Wir kommen, Elizabeth!«
Jake blieb stehen. Das Blut rauschte ihm so heftig in den Ohren, dass er nicht klar hören konnte. Er versuchte zu verstehen, was zu ihm durchgedrungen war. Anscheinend kannte Elizabeth eine der Stimmen, die von hinten kamen. Jake legte die Hände wie einen Trichter um den Mund und schrie: »Elizabeth, weißt du, wer das ist?«
»Ja! Das ist der Vater meines Freundes!«, rief sie aufgeregt. Einen Augenblick später hörte Jake, wie die Mädchen sich durchs Unterholz auf ihn zu kämpften.
»Ist Katy in Ordnung?«
»Ja, Sir!«, rief Elizabeth. Eine Welle der Erleichterung erfasste Jake.
»Elizabeth. Wir kommen. Bleib, wo du bist!«, rief Tillman.
Jake war fassungslos und völlig erschöpft. Alle schrien nun gleichzeitig.
Als R.C. Jake sah, richtete er sofort die Waffe auf seine Brust. Der Mann war von oben bis unten mit Schlamm beschmiert und barfuß. Er hatte eine Schrotflinte in der Hand, aus der ein Messer ragte. Die ganze Szene erinnerte R.C. fatal an den Film Apocalypse Now. »Polizei! Polizei! Waffe fallen lassen! Lassen Sie das Gewehr fallen! Fallen lassen, SOFORT!«, schrie er. »Hände hoch!«
Jake ließ die Schrotflinte los und hob die Hände. Dann fiel er auf die Knie und verschränkte die Finger auf dem Kopf. Er konnte nicht mehr stehen, obwohl ihm gerade eine bleischwere Last von den Schultern genommen worden war.
»Mann, bin ich froh, Sie zu sehen«, sagte Jake erleichtert.
R.C. sagte nichts. Er richtete die Pistole weiterhin auf Jake. Dabei schob er sich langsam auf das Gewehr zu, hob es auf und lehnte es außerhalb von Jakes Reichweite an einen Baum.
Steve Tillman war verschwunden. Er suchte nach Elizabeth.
Jake hörte Katy auf ihn zurennen. »Dad! Dad!«, rief sie.
Als R.C. sah, wie das kleine Mädchen zu dem schlammverkrusteten Mann stürzte und ihn umarmte, ließ er die Pistole sinken. Er hörte Steve Tillman aufgeregt mit Elizabeth Beasley sprechen.
»Ist Elizabeth okay?«, schrie R.C.
»Ja!«
»Wer sind Sie?« R.C. wandte sich an Jake.
»Ich bin Jake Crosby. Ich bin ... ich bin in dem Jagdclub irgendwo dort hinten. Boque Chitto. Das ist meine Tochter, Katy. Sie werden nicht glauben, was wir heute Nacht durchgemacht haben.«
R.C. setzte langsam im Kopf die Mosaikteile zusammen. Er steckte die Waffe zurück ins Halfter und ging ein paar Schritte auf Jake zu.
»Und wer sind Sie?«, platzte Katy heraus, bevor R.C. eine weitere Frage stellen konnte.
R.C. lächelte. »R.C. Smithson, junge Dame. Ich bin Deputy-Sheriff.«
»R.C.? Und warum kommen Sie erst jetzt?« Katy maß R.C. mit einem strengen Blick und brachte ihn damit völlig aus dem Konzept.
»Ich habe gedacht, Sie gehören auch zu der Redneck-Gang, die uns töten wollte«, erklärte Jake R.C., während Elizabeth auf Tillman gestützt zu ihnen humpelte.
»Ich habe mir fast in die Hose geschissen, als Sie so plötzlich losrannten ... Oh, ähm ... Entschuldigung, Miss Katy«, sagte R.C.
»Kein Problem. Mein Dad hat heute Nacht öfter so ähnliche Sachen gesagt«, erklärte Katy strahlend.
»Das kann ich mir vorstellen.« R.C. lächelte Jake an.
»Mr Tillman, das sind die Leute, von denen ich Ihnen gerade erzählt habe.« Elizabeth deutete auf Jake und Katy. »Sie haben mir das Leben gerettet.« Ihr war ganz schwindelig vor Erleichterung, weil sie nun endlich außer Gefahr war.
Steve Tillman schüttelte Jake die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Steve Tillman. Ich weiß nicht, was Sie alle heute Nacht durchgemacht haben, aber haben Sie vielen Dank, dass Sie sich um Elizabeth gekümmert haben.«
»Jake Crosby. Das ist meine Tochter Katy.« Jake hatte einen Kloß im Hals.
»Mr Tillman sagt, Tanner ist im Krankenhaus und sein Zustand ist stabil. Das heißt, alles wird gut!«, sagte Elizabeth voller Freude.
»Das ist wunderbar«, antwortete Jake. Langsam sah er von einem zum anderen. Er konnte nicht fassen, was er heute Nacht getan hatte. »Ich hätte Sie fast umgebracht«, sagte er nachdenklich zu R.C. und Tillman. »Zumindest einen von Ihnen.«
»Ja, viel hat nicht gefehlt«, antwortete R.C. stoisch. Er betrachtete die Schrotflinte. »Einen Teil von dem, was Sie gemacht haben, konnten wir da hinten besichtigen.« Dann schaute er sich Jake im Licht der Taschenlampe genauer an.
»Er hat es verdient«, sagte Jake schlicht und ohne den geringsten Anflug von Reue. »Und einer von den Kerlen treibt sich immer noch irgendwo hier rum. Ein ziemlich fetter Typ.«
»Ich glaube, er hat die Gegend inzwischen verlassen. Ich kann es gar nicht erwarten, alle Einzelheiten zu erfahren. Aber erst mal müssen wir hier weg.« R.C. hatte Elizabeths geschwollenen Knöchel bemerkt. Mit einem Blick auf Jake fuhr er fort: »Und vielleicht sollten Sie sich ein bisschen frisch machen. Der Sheriff hat sicher tausend Fragen.«
Es gab noch so viel zu sagen, aber Jake wusste, dass der Deputy recht hatte. Sie brauchten einen sicheren Ort. Die Anspannung würde erst endgültig von ihm abfallen, wenn sie aus diesem Wald heraus waren. »Mein Truck steht etliche Meilen entfernt in dieser Richtung.« Jake zeigte nach Nordwesten.
»Bis zu unserem Jeep sind es etwa zwei Meilen. Ich glaube, wir gehen am besten zur Straße und halten dort ein Auto an«, sagte R.C. Er sah, dass Steve Tillman Elizabeth seine Jacke gab, und schaute zu, wie der völlig verdreckte und verschwitzte Jake sich hochrappelte. »Ich würde Ihnen meine Jacke anbieten«, sagte R.C. lachend. »Aber meine Klamotten sind noch nasser als Ihre. Als Sie plötzlich lossprinteten, bin ich so erschrocken, dass ich kopfüber in den Bach gefallen bin!«
»Kein Problem. Aber können Sie vielleicht das Gewehr nehmen? Ich trage Katy Huckepack. Das tue ich sowieso schon die halbe Nacht«, sagte Jake liebevoll.
Jake sah zu, wie Tillman Elizabeth hochhob. Er selbst nahm Katy auf den Rücken. Gemeinsam folgten sie dem Schein von R.C.s großer Taschenlampe zum Highway.
»Wenn wir nach Hause kommen, bringt meine Mom meinen Dad um!«, verkündete Katy.
Alle lachten. Selbst Jake brachte ein erschöpftes Lächeln zustande.
»Haben Sie denn kein Funkgerät?«, fragte Jake R.C.
»Das ist eine lange Geschichte. Es kam unter den Jeep«, sagte R.C. ein wenig belämmert. »Das zu erklären wird nicht leicht werden.«
Es dauerte nicht lange und sie arbeiteten sich die steile Böschung zum Highway hinauf. Als Jake die Straße erreichte, ging R.C. bereits auf und ab und hielt Ausschau nach Fahrzeugen. Gemeinsam drängten sie sich in der Straßenmitte zusammen. Als gerade niemand hinsah, gab Tillman R.C. die Pistole zurück.
Es dauerte ein paar Minuten, dann sahen sie Scheinwerfer näher kommen. R.C. ließ die Taschenlampe aufblitzen und ruderte mit den Armen. Das Fahrzeug blieb in hundert Metern Entfernung stehen, das Fernlicht strahlte auf. Nach zehn Sekunden fuhr das Auto langsam rückwärts, wendete dann und raste mit hoher Geschwindigkeit davon.
»Wie seltsam! Wer immer am Steuer dieses Geländewagens saß, hatte anscheinend Angst vor uns«, stellte R.C. fest.
»Na ja«, sagte Tillman lachend. »Sehen Sie sich uns doch mal genau an.«
»Sie haben recht. Die beiden würde ich vielleicht noch mitnehmen.« R.C. zeigte auf die Mädchen. »Aber unseren alten Freund Jake hier? ... Nicht für Geld und gute Worte.«
Alle lachten.
»Ich würde mich auch nicht mitfahren lassen.« Jake wischte sich ein wenig Dreck von der Stirn.
»Viele Leute, die hier leben, würden Sie sicher für eine Art Moorgeist halten«, fügte R.C. grinsend hinzu.
Schließlich näherte sich ein weiteres Fahrzeug. Ein gigantischer weißer Sattelschlepper. Als R.C. sich in die Straßenmitte stellte, mit der Taschenlampe und den Armen ruderte und den Fahrer so zum Anhalten aufforderte, wurde der Truck langsamer. Der Fahrer war offenbar nervös. Ungläubig starrte er die Gruppe an, die im Lichtstrahl seiner Scheinwerfer stand. Als Jake sah, dass es sich um einen Walmart-Truck handelte, schüttelte er lächelnd den Kopf. Die sind wirklich überall, dachte er.
R.C. richtete die Taschenlampe auf seine Uniform. »Sir, ich bin Deputy-Sheriff Smithson. Es handelt sich um einen Notfall. Wir brauchen eine Mitfahrgelegenheit nach Livingston.«
Der Trucker sah von einem zum anderen, dann betrachtete er R.C.s Dienstabzeichen und sagte schließlich: »Kein Problem, Officer. Springt alle rein!«
»Danke, Sir. Setzen Sie uns einfach am Krankenhaus ab. Wir sagen Ihnen, wo das ist«, sagte R.C.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte der Fahrer während er zusah, wie die seltsame Truppe sich in sein Fahrzeug hievte. »Krabble einfach nach hinten, Kleine«, sagte er zu Katy.
»Das war eine lange Nacht«, sagte Jake. »Passen wir überhaupt alle hier rein?«, fragte er beim Hochklettern.
»Sicher. Wir müssen eben zusammenrücken.« R.C. schüttelte dem Lastwagenfahrer die Hand. »Vielen Dank, dass Sie uns mitnehmen.«
»Keine Ursache ... Ich war bloß eben ein bisschen erschrocken. Ich dachte, Sie wollten den Lastwagen entführen.«
Jake, Katy und R.C. setzten sich auf die Schlafliege; Tillman und Elizabeth teilten sich den Beifahrersitz. Katy fand es aufregend, in einem so großen Truck mitfahren zu dürfen.
»Walmart-Aktien setze ich definitiv auf meine Kaufliste«, sagte Jake.
Der Fahrer war vom alten Schlag, höflich und zurückhaltend. Er stellte keine Fragen; nur hin und wieder musterte er seine Passagiere mit einem forschenden Seitenblick.
»Ich kaufe sowieso mein ganzes Zeug bei Walmart«, fügte R.C. hinzu. Er versuchte eine Unterhaltung in Gang zu bringen. »Was haben Sie denn geladen?«
»Fernseher«, antwortete der Fahrer höflich.
»Hey, haben Sie ein Handy?«, fragte R.C.
»Ja klar.« Er reichte es R.C. Es war rot, weiß und blau.
»Kein Netz«, stellte R.C. fest.
»Was Sie nicht sagen. Die Gegend braucht dringend einen Turm«, sagte Jake.
»In der Nähe von Livingston wird die Verbindung besser«, erklärte R.C. Dann sah er Jake an. »Ich kann es kaum erwarten, Ihre Geschichte zu hören.«