Sieben
»Ruhe jetzt! Haltet die Klappe! Haltet verdammt noch mal die Klappe! Jetzt beruhigt euch doch mal!«, schrie Reese. Er sprang auf die Ladepritsche des Pick-ups, um nach Johnny Lee zu sehen.
Johnny Lee spuckte gurgelnd Blut und rang nach Luft. Er wollte sprechen, brauchte aber Minuten, um ein paar Worte zu sagen. Er würde sterben und er wusste es. Bei seinen letzten Worten rann ihm Blut aus dem Mund. »Schappt ihn ... schnappt euch das Arschloch.«
Johnny Lee Grover, einer der übelsten, berüchtigtsten Verbrecher Westalabamas, starb im Alter von sechsunddreißig Jahren in den Armen seines Cousins.
»Johnny Lee! Johnny ... nein! Johnny Lee, bitte! Stirb nicht!«, bettelte Reese. Ein Leben ohne Johnny konnte er sich nicht vorstellen. Seit er denken konnte, hatte sein ganzes Dasein sich um Johnny Lee gedreht.
Mini sagte kein Wort. Er stand unter Schock. Sweat war bereit, er wartete auf Befehle.
Reese stand auf, drehte sich zum Camp und brüllte, so laut er konnte: »Du bist tot! Du bist ein toter Mann! Du hast ihn umgebracht! Du Arschloch! Hörst du mich? Du bist eine lebende Leiche!« Dann warf er alles, was er irgendwie in die Finger bekam, so weit weg, wie er konnte. Dabei schrie er immer wieder: »Du bist eine lebende Leiche!«
Der Chevy-Pick-up fuhr schlingernd los und verschwand auf einem Weg, der weiter in das Grundstück hineinführte.
»Mann, er haut ab!«, sagte Mini.
»Den kriegen wir nicht mehr!«, fügte Sweat hinzu.
»Irrtum ... Er fährt genau dorthin, wo ich ihn haben will.« Reese lachte auf. »Okay, Jungs; ihr beide fahrt die Straße hier runter, bis ihr auf die Dummy Line stoßt – ihr wisst ja, wo die ist. Er wird versuchen, über die alte Bahntrasse wegzukommen. Ihr habt gute zehn Meilen Vorsprung. Die Torkombination ist neunzehn-zweiundneunzig, glaube ich. Wenn das nicht stimmt, schießt ihr das verdammte Schloss eben weg. Aus diesem Scheißloch führen nur zwei Wege heraus und wir sind auf beiden. Erledigt ihn und alle, die bei ihm sind. Der Arsch soll richtig leiden. Verstanden?«, brüllte Reese. Speichelfetzen flogen ihm aus dem Mund.
Nacheinander schaute er den beiden anderen in die Augen. »Ich folge ihm da lang.« Er zeigte in die Richtung, in die Jake gefahren war. »Er kommt nicht weit. Der Boden ist zu sehr aufgeweicht. Der blöde Arsch sitzt in der Falle; er weiß es nur noch nicht. Und jetzt los!«
Sweat und Mini sprangen in Minis Truck. Mini drückte das Gaspedal durch. Die Stollenreifen schleuderten eine Fontäne aus Schlamm und Schotter in die Luft. Sweat überprüfte seine Pistole. Schon nach wenigen Minuten hatten sie die ehemalige Bahntrasse erreicht. Als sie um die enge Kurve schlingerten, verlor Mini beinahe die Kontrolle über den Truck. Obwohl der Wagen wild hin und her schleuderte, schaute Sweat nicht einmal auf. Wie durch ein Wunder bekam Mini den Wagen wieder in den Griff und gab erneut Gas. Nach etlichen Meilen auf der holprigen Piste sahen sie Scheinwerfer, die die Dunkelheit am Tor durchdrangen. Sweat begann zu fluchen. Dann stießen sie beide einen markerschütternden Schlachtruf aus.
Reese überlegte, was er mit Johnny Lees Leiche machen sollte. Er beschloss, sie auf der Ladepritsche des Trucks liegen zu lassen, bis sie den Drecksack erledigt hatten, der ihn erschossen hatte. Reese bedeckte Johnny Lees Kopf und Schultern mit einer Jacke. Dann ließ er den Motor an und fuhr langsam zurück zum Clubhaus.
Flutlichter beleuchteten die Fläche davor. Im Wohnwagen brannte Licht. Die Tür stand weit offen. Mit gezogener Waffe schlich Reese sich vorsichtig an. Er spähte durch die Fenster, überzeugte sich, dass niemand da war. Dann ging er hinein und sah sich um. Überall Tarnklamotten. In der Ecke glühte ein Heizgerät. Auf dem oberen Stockbett entdeckte er einen lindgrünen Schlafsack und ein pinkfarbenes Kopfkissen. Auf dem Boden lag irgendein Stofftier. Komisch, dachte er, während er darauf trat und den Stiefel genüsslich drehte. Als er einen Stapel Kinderkrimis bemerkte, zählte er zwei und zwei zusammen. Der Scheißkerl hatte ein Kind bei sich ... wahrscheinlich ein Mädchen. Oh, das wird gut – richtig, richtig gut.
Beim Verlassen des Wohnwagens bemerkte er die Jagdzeitschrift auf dem Sofa. In einer Ecke klebte ein kleines weißes Postetikett. »Bingo!«, sagte er laut. Mit einem dämonischen Grinsen im Gesicht spazierte er zum Truck zurück. Er ließ den Motor aufheulen und dachte nach. Das laute Röhren des Doppelauspuffs schenkte ihm Energie. Er würde den Kerl umbringen, genau wie Johnny Lee es gewollt hatte. Und mehr.
»Ich kriege ihn, Johnny Lee ... das schwöre ich dir«, versprach er laut.
Reese klappte Johnny Lees Handy auf. Es war ein Southern-Link-Funktelefon. Er stellte es auf Funkempfang, durchsuchte die Namensliste, bis er den richtigen Eintrag fand, und drückte die Sendetaste. Biep-biep.
Zwanzig Sekunden später hörte Reese ein zweites Biep-biep und jemand antwortete.
»Yo, Johnny Lee, was gibts?« Im Hintergrund lief Musik.
Biep-biep. »Moon Pie, hier Reese. Ich brauche einen Gefallen.«
Biep-biep. »Yo, Mann. Geht klar.«
Biep-biep. »Wie schnell kannst du in West Point sein?« Reese stieg aus dem Wagen und ging auf und ab.
Biep-biep. »Zwanzig, fünfundzwanzig Minuten.«
Biep-biep. »Okay, pass auf. So ein Scheißtyp hat gerade auf Johnny Lee geschossen und ihn voll erwischt. Er ist tot.«
Biep-biep. »Scheiße, Mann ... im Ernst? Verdammt ... Mann. Und was ist mit dir? Warum? Was zum Teufel ist eigentlich los?«
Biep-biep. »Wir wollten ihn ausrauben und er ist ausgeflippt ... Lange Geschichte. Im Moment jagen wir ihn durch den Wald. Ich will, dass du zu seinem Haus fährst und nachsiehst, ob jemand da ist. Schnapp dir denjenigen oder diejenige. Ganz egal, wie hässlich es wird.«
Biep-biep. »Du meinst, er hat eine Alte?«
Biep-biep. »Ja, darauf möchte ich wetten ... Und ich will, dass er bezahlt.«
Biep-biep. »Gib mir die Adresse.«
Reese las sie von der Zeitschrift ab.
Biep-biep. »Ich rufe dich zurück ... Bin schon unterwegs, Mann.«
Mit einem fiesen Grinsen stieg Reese wieder in den Truck. Langsam und konzentriert legte er den Gang ein und fuhr Richtung Dummy Line. Er war Johnny Lees Killer auf den Fersen.