Achtundfünfzig

Marlow saß an Ollies Schreibtisch. Als Ollie an Martha O’Brien vorbeiging, warf sie ihm einen verständnisvollen Blick zu. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Ollie sah, wie Marlow von seinem Dienstapparat aus telefonierte. Zach Beasley betrat die Dienststelle. Martha stand auf und umarmte ihn. In ihrer Gegenwart fühlten die meisten Menschen sich schnell besser, denn sie hatte ein fast unheimliches Gespür dafür, was sie sagen musste und wann. Sie schenkte Zach eine Tasse Kaffee ein. Ollie wusste, sie würde ihn von nun an beglucken.

Marlow winkte ihn zu sich. Ollie hängte den Cowboyhut an einen Haken und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.

»Genau ... die Medien zeigen großes Interesse an der Sache. Und wenn wir Ihren Hubschrauber benutzen, hat das natürlich eine sehr positive Außenwirkung ... Dann sind Sie ein Held.« Marlow zwinkerte Ollie zu. Er hatte eine Dose Wiener Würstchen geöffnet, legte sie auf Salzcracker und besprenkelte sie systematisch mit Tabasco.

»Ja, Sir ... Wie ich schon sagte. Die Sache ist wichtig genug für die bundesweiten Nachrichtensender. Angefangen von USA Today bis CNN.« Marlow wollte in seinen Snack beißen, legte den Cracker dann aber vorsichtig auf Ollies Schreibtisch und rückte das pinkfarbene Würstchen noch einmal zurecht. »Okay. Ich denke daran. Zum Strand. Morgen Nachmittag ... Nein, Bill. Das passiert nicht noch mal. Versprochen ... Die Hirschsaison hat ja noch nicht begonnen.« Er lachte herzhaft. »Wir brauchen ihn so bald wie möglich. Er soll vor dem Krankenhaus von Livingston landen ... Ja, die haben ein Helipad. Danke, Gouverneur. Und gute Nacht«, sagte Marlow mit überschwänglicher Herzlichkeit und legte auf.

Dann beugte er sich strahlend über Ollies Schreibtisch. »Sie haben Ihren Hubschrauber. Er ist in nicht mal zwei Stunden hier. Diese Dinger passen einfach immer«, fügte er hinzu. Dabei hob er fröhlich die Dose mit den Wienern hoch. »Möchten Sie eins?«

Ollie ignorierte das Angebot. Er war glücklich und erleichtert, weil er nun einen Hubschrauber hatte, fragte sich aber gleichzeitig, ob Marlow vielleicht mehr daran gelegen war, den Wahlkampf des Gouverneurs zu unterstützen, als Elizabeth zu finden. »Danke, Marlow! Aber was war das mit dem Strand?«

»Der Gouverneur möchte den Hubschrauber so schnell wie möglich zurückhaben, damit er mit seiner Familie zu seinem Strandhaus auf Ono Island fliegen kann ... Sie wissen schon. An der Golfküste.«

»Shit, Marlow. Wir können doch gar nicht sagen, wie lange die Suchaktion dauert!«, rief Ollie.

»Immer mit der Ruhe. Irgendwie biegen wir das alles schon hin.« Marlow stand auf und bot Ollie dessen eigenen Stuhl an.

»Und was ist mit der Hirschsaison?« Ollie setzte sich und winkte Zach zu sich herein.

»Ach so, das ... ja. Letztes Jahr haben wir in der Nähe von Mobile Hirsche gejagt und der Gouverneur musste abends um sieben bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Montgomery sein. Es war kalt und die Bullen haben die Kühe ganz schön gescheucht. Kurz bevor wir aufbrechen mussten, habe ich einen kapitalen Bullen erlegt. Wir hatten keine Zeit, ihn auszuweiden. Er war riesig. Ich wollte ihn nicht zurücklassen, also habe ich den Gouverneur überredet, dass ich das ganze Vieh samt Innereien in den Helikopter packen konnte. Die Freigänger sollten sich um den Hirsch kümmern, sobald ich zu Hause war. Und na ja, während des Fluges lief ein bisschen Blut aus und hat die gesamte Unterseite des Hubschraubers bespritzt. Als wir landeten, kackte sich die Bodencrew fast ins Hemd. Die dachten, Hydraulikflüssigkeit sei ausgelaufen. Anscheinend bekam der Gouverneur deswegen ein bisschen Ärger. Aber, mein Junge, der Hirsch war wirklich riesig.« Lachend stopfte Marlow sich ein Würstchen in den Mund.

Ollie starrte ihn an. Jäger sind seltsam. Einfach unfassbar, für einen Hirsch alles tun. Völlig plemplem. Zach betrat das Büro und holte ihn in die Realität zurück.

»Okay, okay. Wir müssen planen.« Ollie schnappte sich ein Blatt Papier und legte es neben die Karte des Countys. Mit einer Geste bot er Zach einen Stuhl an.

»Nein danke. Ich stehe lieber.« Zach konnte jetzt nicht stillsitzen.

Ollie nickte verständnisvoll. »Die Faktenlage sieht so aus: Irgendwie gelangten der Tillman-Junge und Elizabeth bei ihrem Date auf die Dummy Line. Von dieser Piste aus kann man ein Grundstück von Tanners Familie erreichen. Das war wohl der Grund, weshalb die beiden jungen Leute dort waren ... was immer sie nachts da draußen zu suchen hatten. Aber das soll im Augenblick nicht unsere Sorge sein. Den Jungen haben wir gefunden. Er wurde brutal zusammengeschlagen. Auf der ehemaligen Bahntrasse stand ein fremder Truck ohne Kennzeichen. Die Schlüssel haben wir beschlagnahmt. Einige Zeit vorher wurde ich zu einem Jagdclub dort in der Gegend gerufen. Ein Mann ruft Mick Johnson vom Handy aus an und sagt ihm, es gäbe einen Notfall. Als wir dort ankommen, ist keiner da. Die Telefonverbindung war abgebrochen und wir konnten keinen weiteren Kontakt mehr herstellen. Wir finden eine größere Menge Blut und später eine Pistole, aber sonst wissen wir nicht viel.«

Für Zach Beasley war das alles neu. Wir erstarrt stand er da und versuchte die Informationen zu verdauen. Er war mehr als nur erstaunt.

»Und noch was: Der Typ, der Mick angerufen hat, heißt Jake Crosby. Er wohnt in West Point, Mississippi. Und die Frau, die heute Nacht aufgefunden wurde, ist seine Nachbarin.«

»Meinen Sie, dieser Crosby steckt hinter allem, was passiert ist?«, fragte Zach.

»Nein ... Ich meine, ich weiß es nicht. Aber ich glaube es nicht. Marlows Deputy hat die Frau kurz nach einem Telefongespräch gefunden, das ich mit Johnny Lee Grover geführt habe. Für ihn interessieren wir uns im Moment ganz besonders.«

Als Marlow Johnny Lees Namen hörte, grunzte er. »Der Name steht für Ärger – in Großbuchstaben.«

»Wir – R.C. und ich – redeten neben dem Truck, von dem ich gerade erzählt habe. Dort piepst plötzlich ein Funktelefon und wir hören eine Stimme, die sich nach einem Mädchen erkundigt«, fuhr Ollie fort. Er wählte seine Worte mit Bedacht.

Zach bekam weiche Knie. Er wollte seinen Ohren nicht trauen.

»Sein Name erschien auf dem Display: Johnny Lee Grover. Ich rief ihn von diesem Telefon aus zurück und sagte, wir müssten uns mit ihm treffen und wir wollten das Mädchen. Ich hatte gehofft, wir könnten verhandeln oder er würde uns seinen Standort verraten. Natürlich stellte er sich dumm. Zwanzig Minuten später findet Marlows Deputy die Frau aus West Point bei Johnny Lees Wohntrailer. Das kann Zufall sein, aber das bezweifle ich. Zufälle dieser Art sind selten.«

Zach Beasley setzte sich und starrte an die Decke.

»Sie haben genau richtig gehandelt, Junge.« Marlows Kommentar war eher an Zach gerichtet als an Ollie. Marlow wollte Elizabeths Vater beruhigen. »Manchmal muss man ein bisschen im Wespennest stochern, um etwas in Bewegung zu bringen.«

Nach Marlows Worten fühlte Ollie sich ein bisschen besser. Er sah Zach an. »Der Anruf, den wir zufällig aufgefangen haben, kann sich also auf die Frau aus Mississippi bezogen haben und nicht auf Elizabeth. Wir wissen es einfach nicht genau.«

Marlow stand auf. Er hatte das Gefühl, dringend etwas Weises und Tiefgründiges beisteuern zu müssen. »Was wissen wir über Crosby?«

»Mick legt die Hand für ihn ins Feuer. Und wir alle kennen Mick ... Er ist sauber; ich vertraue seinem Urteil. Crosby kommt zum Truthahnjagen her und hat mit ziemlicher Sicherheit ein Kind bei sich. In dem Wohnwagen, in dem er sich aufhielt, fanden wir einen kleinen Schlafsack, ein Stofftier und etliche Kinderbücher. Wir haben einen Fahndungsaufruf für ein Fahrzeug laufen, das, kurz bevor wir die Frau gefunden haben, vor Johnny Lees Wohntrailer gesehen wurde. Das Kennzeichen stammt aus Tupelo.«

Ollie blickte auf. Einige seiner Deputys, die eigentlich dienstfrei hatten, kamen gerade zur Tür herein und sprachen mit Martha. Gut. Wir brauchen jeden einzelnen. Hinter ihnen erschienen ein Zeitungsreporter und zwei Kamerateams.

»Ihr Gefolge ist eingetroffen, Marlow«, sagte Ollie mit einem Blick auf die Medienvertreter spöttisch.

»Diese Leute können eine große Hilfe sein.« Marlow beugte sich vor und sah nach, wer sie waren. »Um die Medien kümmere ich mich für Sie. Und ich habe noch zwei Deputys, die gleich hier sein müssten.«

»Mr Beasley, es tut mir leid, dass Sie das alles hören mussten. Aber es ist gut, wenn Sie wissen, womit wir es zu tun haben ... Ein Großteil davon ist ziemlich rätselhaft. Um sämtliche Informationen auszuwerten, brauchen wir Zeit«, sagte Ollie bedauernd.

Zach nickte wie in Trance. Seine Augen klebten noch immer an der Zimmerdecke.

»Wir kriegen das hin, Zach. Die besten Leute aus Westalabama arbeiten daran. Und ab Tagesanbruch können wir den Hubschrauber des Gouverneurs für die Suche einsetzen.« Marlow versuchte Zach zu beruhigen.

Ollie zeigte auf Karte. »Wir haben hier das größte Schutzgebiet des Countys ... Meilenweit nichts als Nadelholzplantagen und Sumpf. Das macht diesen Einsatz so schwierig ... Und wir wissen auch nicht mit letzter Sicherheit, ob wir wirklich genau dort suchen müssen. Aber wir fangen dort an. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss in West Point anrufen und mich über diesen Jake Crosby schlaumachen. Marlow, Sie fangen mit der Planung des Sucheinsatzes an ... Und vergessen Sie Ihren Tabasco nicht.« Ollie reichte Marlow die kleine rote Flasche.

Gemeinsam verließen Zach und Marlow Ollies Büro und schlossen die Tür. Einen Moment lang beobachtete Ollie das zunehmende Chaos im Vorzimmer. Dann griff er zum Telefon und rief die Auskunft an.