Zwei
In ein paar Monaten würde Tanner Tillmann seinen Highschool-Abschluss machen. An der Sumter-County-Highschool war er Quarterback der Footballmannschaft gewesen und wollte demnächst an der Auburn University Forstwirtschaft studieren. Tanner fuhr einen 1981er-Jeep CJ-7 mit schlammtauglichen, extrabreiten Stollenreifen und einem Soundsystem, das mehr gekostet hatte als der ganze Wagen. Er war das, was die Leute in der Gegend einen »guten Jungen« nannten. Meist trug er Levi’s, Cowboystiefel und Hemden mit Knopfleiste. Dummheiten machte er nur selten, und weil sein Großvater Alkoholiker gewesen war, kannte seine Mutter in dieser Beziehung keinen Spaß. Wie die meisten guten Jungs aus dem Süden liebte Tanner seine Momma heiß und innig und wollte ihr nicht wehtun. Deshalb trank er keinen Alkohol.
Seine Noten waren trotzdem bestenfalls mittelmäßig, weil er seine Zeit seit dem vergangenen Oktober vorwiegend damit verbrachte, Elizabeth Beasley hinterherzuhecheln. Sie war Cheerleaderin und heiße Anwärterin auf den Titel der Homecoming Queen. Schon fast das ganze Schuljahr über trafen sie sich regelmäßig. Bis zum Abschlussball waren es nur noch ein paar Wochen, und Tanner hatte große Pläne, zu denen auch eine Limousine gehörte.
Elizabeths Vater war ein sehr erfolgreicher Steuerberater; deshalb war sie in ziemlich komfortablen Verhältnissen aufgewachsen. Sie hatte vor, an der University von Virginia in Charlottesville Architektur zu studieren, und wollte sich auf moderne Wohnhäuser im Antebellum-Stil spezialisieren.
Elizabeth war die perfekte Tochter und überall mit dabei. Gleichzeitig achtete sie genau darauf, mit wem sie ausging, und war stets auf ihren Ruf bedacht. Sie war die Bilderbuchversion eines typischen amerikanischen Mädchens alter Schule. Und sie sah umwerfend aus. Deshalb war sie jedem auch nur halbwegs lebendigen männlichen Wesen in den umliegenden vier Countys bekannt. Die braven Jungs gaben jeden Penny, den sie hatten, für Abendessen, Blumen und Kinobesuche aus und versuchten erfolglos, ihre Zuneigung zu gewinnen. Die schlimmen Jungs lauerten in der Dunkelheit und hofften, sie würde irgendwo an einer abgelegenen Stelle mit ihrem knallgelben VW-Käfer eine Panne haben. Die Mädchen waren schlicht eifersüchtig. Elizabeth ahnte nicht, dass jeder sie auf dem Radar hatte. Ihr Vater sagte manchmal lachend, eigentlich müsse er zu ihrem Schutz rings ums Haus einen Burggraben anlegen. Sie wusste nicht, wie ernst er das meinte.
Am 15. April, einem Freitag, würde Elizabeths Vater noch bis spätnachts im Büro sitzen, um die Steuererklärungen einiger Mandanten fertig zu machen, die wieder einmal bis zur letzten Minute gewartet hatten. Ihre Mutter half immer bei der Organisation und der elektronischen Datenerfassung. Das waren die einzigen Tage im Jahr, an denen sie arbeitete. Und sie tat es größtenteils, weil sie sehen wollte, wie es um die Einkünfte der anderen Familien in der Gegend bestellt war.
Nach Monaten hartnäckiger Vorarbeit hatte Tanner Elizabeth endlich dazu überreden können, mit ihm zum Grundstück seiner Familie zu fahren. Ihre Eltern würden bis in die Nacht hinein arbeiten. Wahrscheinlich war dies die perfekte Gelegenheit, länger als gewöhnlich wegzubleiben. Die Beziehung wurde langsam ernster. In den letzten Monaten hatten sie sich mit niemand anderem mehr verabredet. Tanner legte sich mächtig ins Zeug, denn er wusste, dass Elizabeth nicht zurückkehren würde, wenn sie erst einmal auf dem College war. Er musste dafür sorgen, dass sie sich in ihn verliebte.
Elizabeth hatte keinerlei Absicht, mit irgendjemandem bis zum Äußersten zu gehen. Doch sie mochte Tanner mehr, als sie öffentlich zugab, und war auf ein paar Dinge ein bisschen neugierig. Bislang hatte sie sich von ihrer streng katholischen Erziehung leiten lassen und hatte nicht die Absicht, vom Pfad der Tugend abzuweichen. Zumindest nicht sehr weit. Tanner war Baptist, befand sich aber in einer Lebensphase, in der er vor allem von seinen Hormonen geleitet wurde. Elizabeth war etwas Besonderes und er wollte sie weder zu heftig bedrängen noch zu sehr aufs Tempo drücken. Er hatte Achtung vor ihr und wusste, dass er verliebt war.
Elizabeth bestand darauf, dass sie an einen sicheren Ort fuhren. Und Tanner kannte die perfekte Stelle. Seine Familie besaß draußen auf dem Land ein fünfundsechzig Hektar großes Grundstück. Dass jemand sie dort überraschte, war völlig ausgeschlossen. Tanner versuchte Elizabeth die Idee so zu verkaufen, dass sie nach Sternschnuppen Ausschau halten könnten. Aber sie wusste, was er vorhatte. Tanner hatte auch ausführlich darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn sie beim Radiohören die Batterie des Jeeps zu sehr beanspruchten. Aber dieses Problem war inzwischen gelöst. Er hatte sich die Batterie eines selten benutzten Lieferwagens der Holzhandlung ausgeborgt, in der er jobbte. Niemand würde es je bemerken. Für den Fall, dass das Soundsystem die Hauptbatterie lahmlegte, war er gewappnet. Elizabeth würde schwer beeindruckt sein.
Der Abend begann mit einer dreiviertelstündigen Fahrt nach Tuscaloosa, dem gesellschaftlichen Zentrum von Westalabama und der Heimat der University of Alabama. Die meisten ihrer Dates begannen mit einer Fahrt nach Tuscaloosa, denn das Sumter County hatte Teenagern nicht viel zu bieten. Tanner hatte das Dach des Jeeps geschlossen, damit es bei der Fahrt auf der Interstate nicht zu kalt und windig wurde. Nach dem Dinner im Dreamland-Bar-B-Que fuhren sie ins Thomas-Sewell-Stadion auf dem Campus, das allgemein nur »The Joe« genannt wurde, und sahen sich das Baseballspiel Alabama gegen Auburn an. Abendspiele eigneten sich wunderbar für ein Date. Die Temperatur war angenehm, das Publikum gut gelaunt und man hatte viel Zeit zum Reden. Sie redeten gerne. In ihren Leben passierte gerade so viel. Vor allem die Collegefrage beschäftigte sie. Beide hatten großes Interesse aneinander, vermuteten aber insgeheim, dass ihre Beziehung die Distanz nicht überstehen würde. Sie wünschten sich, sie könnten einfach so weitermachen, den Gang der Dinge aufhalten. Das junge Paar teilte sich einen großen Plastikbecher Dr Pepper. Tanner teilte liebend gerne alles Mögliche mit Elizabeth.
Nach dem Spiel gingen sie stumm zum Parkplatz. Tanner war so nervös, dass er vergaß ihr die Wagentür zu öffnen. Dabei hatte er eigentlich tadellose Manieren. Elizabeth lächelte. Sie ahnte, was mit ihm los war, und wusste, woran er dachte.
Im Jeep wollte Tanner sie fragen, ob sie noch Lust auf die Fahrt zum Grundstück hatte. Er hoffte, dass sie jetzt keinen Rückzieher machte. Äußerlich gab er sich ziemlich lässig – so als plane er solche Ausflüge andauernd. Innerlich war er ein Nervenbündel.
Plötzlich spürte er in der Gesäßtasche eine Vibration; etwas klopfte hektisch gegen den eng sitzenden Hosenboden seiner Jeans. Er hatte vergessen, dass er auf dem Weg zum Spiel Elizabeths Handy in die Hosentasche gesteckt hatte, damit sie ihre Handtasche nicht mitnehmen musste. Tanner zuckte heftig zusammen, und Elizabeth fand das so komisch und lachte so sehr, dass ihr das Dr Pepper aus der Nase schoss.
»Vibriert etwa gerade dein Hintern?« Sie prustete wieder los.
Mit rotem Kopf gab Tanner ihr das Telefon.
Elizabeth strich sich das Haar hinters Ohr und sagte fröhlich: »Hallo.« Dabei lächelte sie Tanner liebevoll an.
»Ja, Ma’am. Das Spiel war toll. Bis auf die Tatsache, dass Auburn gewonnen hat.« Sie zwinkerte Tanner zu. »Neun zu sieben. Machen wir ... versprochen. Wir passen auf. Arbeitet nicht zu lange. Ich liebe dich, Mom. Tschüss.«
»Kontrollanruf für dich?«, fragte er.
»Wohl eher für dich. Wahrscheinlich hat sie Angst, dass du mich kidnappst«, antwortete Elizabeth grinsend.
»Willst du immer noch die Sterne sehen?« Er ließ den Jeep an und schenkte ihr sein schönstes Lächeln.
»Und uns kann dort nichts passieren?«, fragte sie mit zusammenzusammengekniffenen Augen.
»Großes Ehrenwort.« Er schlug ein Kreuz über seinem Herzen.
»Dann los!«, rief sie. Sie strahlte ihn an und küsste ihn auf die Wange.
Während der Fahrt hielt Tanner Elizabeths Hand. Sie hörten sich ihre neue CD von Kenny Chesney an. Als sie schließlich die Schotterpiste erreichten, öffnete Tanner das Dach des Jeeps. Der Himmel war klar und es war kühl. Kein Mensch würde sie hier draußen stören. Ideale Bedingungen für ein paar Stunden Sternegucken.