Neunundfünfzig

Lindsay Littlepage versuchte mit Unterstützung von Lakreshia Gibbons, des einzigen weiblichen Deputys im Sumter County, ihren Mann Scott zu erreichen. Bedächtig wählte Lakreshia die Handynummer, die Lindsay ihr nannte. Beim ersten Klingeln gab sie Lindsay das Telefon.

Lindsay wartete ungeduldig. Erneut kämpfte sie mit den Tränen. Schließlich hörte sie, wie ihren Mann schläfrig antworten: »Ummm.« Er räusperte sich. »Hallo?«

»Scott! ... Scott!« Sofort fing sie an zu schluchzen.

»Lindsay? Lindsay! Was ist denn los? Ist was mit dir? Ist was mit den Kindern? Lindsay!«, sagte er aufgeregt. Scott hatte bis spät in der Nacht mit ein paar anderen Pharmareferenten gepokert und Whiskey getrunken. Sein Schädel pochte.

Als Lindsay die Stimme ihres Mannes hörte, brachte sie keinen Ton mehr heraus. Lakreshia nahm ihr sanft den Telefonhörer aus der Hand.

»Mr Littlepage, ich bin Deputy Gibbons von der Sumter-County-Dienststelle. Ihre Frau ist im Krankenhaus in Livingston. Inzwischen geht es ihr gut. Es mag verrückt klingen, aber wir glauben, sie wurde entführt, und sie konnte entkommen.«

»Entführt? Livingston? Alabama?« Angestrengt versuchte Scott den Sinn dieser Worte zu verstehen.

»Ja, Sir«, sagte die Polizistin.

»Ist ... ist sie okay?« Scott setzte sich auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

»Ja, Sir. Sie sitzt mir direkt gegenüber. Natürlich ist sie erschöpft und die Ärzte werden sie noch weiter untersuchen.«

»Augenblick ... Sagen Sie das alles noch mal. Ich verstehe kein Wort«, bat Scott. Er tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe.

»Genaueres wissen wir noch nicht, Sir. Wir gehen davon aus, dass Ihre Frau irgendwann im Lauf der Nacht gekidnappt wurde. Sie entkam und wurde von einem unserer Deputys gefunden. Jetzt ist sie hier im Krankenhaus und ihr Zustand ist stabil.«

»Stabil? Sie ist nicht verletzt?«

»Nein, Sir.«

»Was ist mit meinen Kindern?«

»Anscheinend übernachten sie bei Freunden. Das überprüfen wir gerade ... Augenblick ... Ich glaube, sie kann jetzt selbst mit Ihnen sprechen. Moment.«

»Scott, er hat behauptet, du hättest jemanden umgebracht! Stimmt das? Was ist denn los? Wen hast du denn getötet? Bitte sag mir, dass du niemanden umgebracht hast«, flehte Lindsay nahezu hysterisch.

Völlig überwältigt von dem, was so plötzlich über ihn hereinbrach, schüttelte Scott den Kopf. Er versuchte Lindsays Gestammel zu verstehen.

»Verdammt, Lindsay – ich habe keine Ahnung, wovon du redest! Ich bin in Biloxi und arbeite. Wer behauptet denn so was? Ich habe niemanden umgebracht. Bist du okay? Was für ein Wahnsinn!«, rief Scott.

»Scott, bitte komm her und hol mich. Ich habe Angst«, bettelte sie.

»Klar doch, Schatz. Ich komme. Du musst keine Angst haben. Geht es dir gut? Was ist mit den ...«

»Ja ... ja. Und die Kinder sind in Sicherheit. Ganz bestimmt. Sie übernachten bei den Johnsons.«

»Ich fahre sofort los, Schatz. Aber es dauert mindestens drei Stunden, bis ich bei dir bin.«

»Bitte mach schnell!«

»Ich bin schon unterwegs, Baby«, versprach er. »Gib mir noch mal die Polizistin. Ich liebe dich.«

Sie reichte Lakreshia das Telefon und legte sich wieder hin.

»Hallo?«

»Wer hat meine Frau entführt?«, fragte Scott. Er konnte es noch immer nicht fassen.

»Wir wissen es nicht, Sir.« Die Polizistin zuckte die Schultern.

»Das ist doch alles total verrückt! Was soll das denn?« Scott stand offenbar unter Schock.

»Keine Ahnung, Sir. Aber wir arbeiten daran, all diese Fragen zu beantworten.«

»Ist sie ... wurde sie ... Wurde sie vergewaltigt?«

»Nein, Sir. Dafür gibt es keinerlei Hinweise.« Die Polizistin warf Lindsay ein aufmunterndes Lächeln zu.

Scotts Gedanken rasten. »Hören Sie, ich habe einen Freund. Er ist gleichzeitig mein Nachbar und Mitglied in einem Jagdclub, etwa zehn Meilen von Livingston. Er heißt Jake Crosby und der Club heißt Boque Chitto. Manchmal jagen wir dort zusammen. Können Sie jemanden dort rausschicken und ihn holen? Er soll bei Lindsay bleiben. Ich bin sicher, er ist im Clubhaus.«

»Ja, Sir. Das lässt sich möglicherweise einrichten.« Deputy Gibbons schrieb »Jake Crosby« in ihr Notizbuch und bemühte sich, »Bogue Chitto« einigermaßen richtig zu buchstabieren.

»Gibt es eine Nummer, unter der ich Sie zurückrufen kann?«, fragte Scott. »Während der Fahrt fallen mir sicher noch einige Fragen ein.«

»Ja, Sir.« Sie gab ihm die Nummer des Krankenhauses und die der Dienststelle.

Scott versprach, so schnell wie möglich zu kommen. Er legte auf und starrte ungläubig die Wand des Hotelzimmers an.

Lakreshia lächelte Lindsay herzlich an und sagte ihr, ihr Mann sei auf dem Weg und sie solle ihr ausrichten, er liebe sie. Lindsay lächelte matt, schloss die Augen und ließ das Xanax seine magische Wirkung entfalten.

Lakreshia verließ den Raum und teilte Martha O’Brien telefonisch die Einzelheiten mit. Als sie die Verbindung mit Jake Crosby erwähnte, gab Martha diese Information sofort an den Sheriff weiter. Im Moment glaubte Ollie immer noch, dass Jake zu den Guten gehörte. Doch er wollte dem Mann zu gern einige Fragen stellen. Ollie hatte gerade mit der Dienststelle des Sheriffs in West Point telefoniert. Außer dass er nie in irgendeiner Weise aufgefallen war, wusste man dort nicht viel über Jake Crosby. Ein Deputy kannte ihn, weil Jake vor zwei Jahren die Softballmannschaft seiner Tochter trainiert hatte. Er glaubte nicht, dass Jake auf kriminelle Weise in einen derart bizarren Fall verwickelt war. In West Point schickte man Streifen zu den Johnsons, um nach den Kindern zu sehen, und zu den Häusern der Littlepages und Crosbys, um im Fall der Entführung zu ermitteln. Der Deputy, mit dem Ollie telefonierte, versprach ihn zurückzurufen, sobald sie Näheres wussten.

»Danke, Miz Martha.« Ollie rieb sich mit beiden Händen den Kopf.

»Brauchen Sie irgendwas, Sheriff?«

»Frischen Kaffee vielleicht ... Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Schon unterwegs.« Martha ging zur Tür, blieb aber noch einmal stehen. »Glauben Sie, dieser Jake hat die Frau aus West Point entführt?«

»Ich habe keine Ahnung, was ich denken soll ... Der gesunde Menschenverstand verlangt, dass wir diese Möglichkeit in Betracht ziehen.«

»Meist ist nichts so, wie es scheint. Oder?«

»Da haben Sie recht, Ma’am.«

»Ich hole den Kaffee. Sie werden ihn brauchen.«