Sechsunddreißig
»Halte dich bereit, alter Junge. Das könnte unser Durchbruch sein«, sagte Larson zu Shug. Der Hund unterbrach sein unermüdliches Lecken für einen Moment, legte den Kopf schief und blickte auf. »Wenn wir im Camp einen wichtigen Hinweis finden, erweitert Sheriff Landrum vielleicht das K-9-Polizeihundeprogramm.«
Deputy Larson Hodges und Mrs Martha O’Brien arbeiteten ganz gut zusammen. Sie mochte zwar den Hund nicht besonders, bewunderte aber Larsons Einstellung zu seinem Job und seinen Ehrgeiz. Gleichzeitig fand sie, er solle lieber öfter mal mit menschlichen Wesen kommunizieren. Larson gab ihr über Funk den neuesten Stand der Ermittlungen durch und wohin er unterwegs war. Martha informierte ihn über Tanners derzeitige Verfassung; sie stand in dauerndem Kontakt mit dem Krankenhaus.
Der Oberarzt, Dr. Sarhan, ein Vanderbilt-Absolvent, der ursprünglich aus Indien stammte, hatte Tanners Behandlung übernommen. Die Leute in der Stadt konnten Dr. Sarhan zwar oft kaum verstehen, aber er war eindeutig der fähigste Arzt, den sie je in der Gegend gehabt hatten, und inzwischen so angesehen, dass ein Restaurant sogar Curryhuhn auf die Speisekarte gesetzt hatte. Tanner befand sich in guten Händen.
Laut dem letzten Bericht des Hospitals hatte Tanner mehrfache Rippenbrüche erlitten. Seine Nase war ebenfalls gebrochen, er hatte fünf Zähne verloren und eine rätselhafte Schürfwunde an der rechten Hand. Die Blutergüsse und Abschürfungen waren zu zahlreich, um sie einzeln aufzulisten. Weil er sich Sorgen um Tanners Kehlkopf machte, zog Dr. Sarhan einige Radiologie-Spezialisten hinzu. Tanner bekam schwere Schmerz- und Beruhigungsmittel, und das würde auch noch eine Weile so bleiben. Dr. Sarhans vorläufige Prognose klang vorsichtig optimistisch.
Martha rauchte eine Menthol-Zigarette nach der anderen und trank schwarzen Kaffee. Sie wollte unbedingt herausfinden, was mit Tanner passiert war. Vielleicht sind sie in einen Drogendeal geplatzt und zwischen die Fronten geraten, dachte sie. Sofort machte sie sich daran, den derzeitigen Aufenthaltsort von Ray-Ray Walker herauszufinden, der hinter fast jedem Verbrechen im Sumter County steckte. Ohne auf Anweisungen zu warten, rief sie bei Ray-Ray zu Hause an. Seine aktuelle Lebensabschnittsgefährtin ging ans Telefon. Sie sagte, Ray-Ray hocke in Montgomery im Knast, und sobald er wieder herauskäme, würde sie ihn umbringen. Martha ließ sich von der Polizei in Montgomery bestätigen, dass Ray-Ray hinter Gittern saß, und vergaß das Gezeter seiner Freundin sofort wieder. Damit war Martha O’Brien allerdings noch keinen Schritt weiter.
Larson fuhr ins Camp und stellte den Motor ab. Er stieg aus, streckte sich und sah sich dann um. Shug saß auf dem Rücksitz und leckte sich. »Achtung!«, rief Larson und öffnete die Tür. Der Hund sprang heraus und setzte sich bei Fuß. Auf der falschen Seite.
»Such!«, sagte Larson im besten Deutsch, das er zustande brachte, und der Hund begann im hohen Gras herumzuschnüffeln. Larson stöberte im Streifenwagen nach der langen Suchleine.
Shug rannte indessen umher und bellte ein paarmal aufgeregt. Erstaunt blickte Larson auf. Was ist los? Shug bellt sonst nie. Der Deputy knipste die Taschenlampe an und ging zu Shug. Dabei stolperte er über etwas und wäre beinahe hingefallen. »Heiliger Bimbam!« Im Lichtschein lag ein 44er-Magnum-Revolver auf der Erde. Das Ding war riesig. »Das ist unsere große Chance, Shug. Ollie wird staunen. Für diesen Fund kriegen wir vielleicht sogar einen weiteren vierbeinigen K-9-Beamten. Gut gemacht, Shug!«
Auf das Lob hin trottete Shug zu Larson zurück.
»Hör auf, die Waffe abzulecken!«, befahl er Shug. Der Hund ignorierte das Kommando.
Larson zerrte Shug weg und überlegte, womit er die Waffe aufheben konnte. Schließlich schob er seinen Bleistift durch den Abzugbügel und hob die Pistole vorsichtig hoch. Er hielt sie ins Scheinwerferlicht des Streifenwagens. Es war eine Ruger Blackhawk, eine sehr durchschlagkräftige Handfeuerwaffe. Larson roch an der Mündung, wie er es im Fernsehen gesehen hatte.
»Mit dem Ding wurde geschossen!«, rief er. Dann steckte er die Ruger in die Burger-King-Tüte, die er vorn im Wagen hatte, und rief schnell über Funk den Sheriff.
Mit zitternden Händen hielt Larson das Mikro. »Einheit fünf an Einheit eins!« Larson bemühte sich um einen professionell klingenden Funker-Ton. Er brannte darauf, von seinem Fund zu berichten.
»Kommen.«
»Sheriff, Sie werden nicht glauben, was ich ... was Shug hier gefunden hat«, sagte er hastig.
»Moment. Ich bin gleich da«, antwortete Ollie ruhig. Er hoffte, dass Larson ihn verstand. Falls die Beasleys noch in seinem Büro saßen und mithörten, wollte er nicht, dass der aufgeregte Deputy etwas beschrieb, was ihre Tochter sein konnte. Er rechnete mit dem Schlimmsten.
»Ich soll es Ihnen nicht sagen?« Larson war enttäuscht.
»Nein. Bin schon unterwegs.« Ollie suchte nach einer Möglichkeit zum Wenden.
Fünfundzwanzig Meilen weit entfernt saß Mrs Martha O’Brien auf der Stuhlkante. Ihre Intuition hielt sie davon ab, etwas zu sagen.
Nach Larsons Meldung war Ollie sofort auf die Bremse gestiegen. Zehn Meter fuhr er im Rückwärtsgang, dann fand er eine genügend breite Stelle auf der Dummy Line, wendete und machte sich auf den Weg zum Camp.
Knapp außerhalb der Reichweite der Scheinwerfer des Expedition lag eine schwarze Fleecejacke mitten auf dem Weg. Sie war beinahe in zwei Teile zerrissen und roch nach Parfüm. Sheriff Ollie Landrum bemerkte sie nicht.