UnbeKrenzte Demokratie

Was dann am 17. Oktober 1989 geschah, war beileibe keine Palastrevolution. Gleich zu Beginn der Politbürositzung stellte Ministerpräsident Willi Stoph den Antrag, Erich Honecker von seinen Funktionen zu entbinden. Die Rücktrittsforderung erstreckte sich zugleich auf Honeckers Freund und obersten Wirtschaftsplaner Günter Mittag und auf Achim Herrmann, im Zentralkomitee zuständig für Agitation und Propaganda. Keines der anwesenden Politbüromitglieder stellte sich hinter Honecker. Der war, Augenzeugenberichten |255|zufolge, »tief getroffen, dass der Vorschlag von Stoph kam«. Honecker unternahm noch einen Versuch, das Politbüro auf den bewährten Kurs einzuschwören. »Der Feind«, warnte er, »wird weiter heftig arbeiten. Nichts wird beruhigt werden. Das Auswechseln von Personen zeigt, dass wir erpressbar sind.« Bei der Abstimmung allerdings votierten Erich Honecker, Günter Mittag und Achim Herrmann gegen sich selbst – sichtlich erleichtert, dass es endlich vorbei war.

Die auf den folgenden Tag, den 18. Oktober, vorgezogene 9. Sitzung des Zentralkomitees besiegelte den Wechsel an der Führungsspitze. Honecker durfte noch einige Abschiedsworte sagen und verließ, so steht es im Sitzungsprotokoll, unter »anhaltendem stürmischem Beifall« den Saal. Die Mitglieder und Kandidaten des ZK erhoben sich von den Plätzen und applaudierten, bis sich die Tür des Sitzungssaals hinter Honecker geschlossen hatte.

»Es gibt den einstimmigen Vorschlag des Politbüros«, sagte Willi Stoph, »den Genossen Egon Krenz zum Generalsekretär des Zentralkomitees zu wählen. Wer dafür ist, bitte ich um das Handzeichen.« Egon Krenz wurde einstimmig zum neuen Generalsekretär gewählt, es gab keine Stimmenthaltungen. Krenz war bereits 1984 zu Honeckers Stellvertreter ernannt worden und galt seitdem, zusammen mit Günter Schabowski, als einer bei beiden Anwärter für das höchste Regierungsamt. Schabowski war von 1978 bis 1985 Chefredakteur bei der SED-Tageszeitung ›Neues Deutschland‹, danach Sekretär im ZK der SED und zugleich 1. Sekretär der Bezirksparteileitung Berlin.

In den wenigen Tagen seiner Regierungszeit kündigte Egon Krenz Reiseerleichterungen an, es kam eine öffentliche Debatte über Wahlen in Gang, überhaupt waren plötzlich kritische Äußerungen an der Tagesordnung. Die ostdeutschen Medien befreiten sich ein Stück weit von Selbstzensur und der Kontrolle von Partei und Sicherheitsdienst. Am 27. Oktober wurde eine Amnestie für Flüchtlinge erlassen, die bis dahin durch ihre »Republikflucht« immer noch einen Straftatbestand erfüllten. Und schließlich veranlasste Egon Krenz einen Kassensturz, eine zunächst geheim gehaltene Analyse der wirtschaftlichen Situation und entsprechender |256|Schlussfolgerungen, wie sich die DDR ökonomisch stabilisieren ließe.

Als sich die Regierung Anfang November zu dem kühnen Schritt entschloss, die seit einem Monat geltenden Reisebeschränkungen in die Tschechoslowakei wieder aufzuheben, überquerten binnen weniger Stunden mehr als 8 000 DDR-Bürger die tschechische Grenze. Noch am Abend desselben Tages hatten 1 200 Ostdeutsche, die ihre Ausreise in die Bundesrepublik erzwingen wollten, in der Bonner Botschaft in Prag Zuflucht gesucht. Jetzt gab es überhaupt kein Halten mehr. In der ersten Novemberwoche erreichten die Protestdemonstrationen ihren Höhepunkt. Am 4. November versammelten sich in Berlin auf dem Alexanderplatz mehr als eine halbe Million Menschen, zwei Tage später gingen in Leipzig schon wieder eine halbe Million Menschen auf die Straße, Zehntausende demonstrierten in den anderen Bezirksstädten, und die Massenflucht nahm bisher nicht gekannte Ausmaße an. In der Folge trat zunächst am 7. November der Ministerrat der DDR zurück, einen Tag später verabschiedete sich das Politbüro geschlossen von der politischen Bühne. Hans Modrow wurde Ministerpräsident. Viele sahen in dem SED-Funktionär einen Mann, der sich Rückhalt in der Bevölkerung verschaffen konnte. Doch derlei Hoffnungen erwiesen sich als trügerisch. Die DDR-Regierung erlangte nie wieder politisches Gewicht. Fortan zog der Westen die Fäden. Wohl niemals zuvor hatte sich eine obrigkeitsstaatliche Regierung so leise und unprätentiös von ihren Ämtern verabschiedet. Möglicherweise war es nur Ratlosigkeit, andererseits konnte sich die Welt noch ein letztes Mal überzeugen, dass die DDR als wirklich selbstbestimmter und eigenständiger deutscher Staat niemals existiert hatte. Am Ende griff die ostdeutsche Parteielite selbst dann nicht nach der Macht, als sich so offensichtlich die Gelegenheit bot. Ohne Rückhalt aus Moskau waren diese Männer vollkommen hilflos.

Abbau Ost
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