Das Schlimmste kommt noch
Die Hoffnung, dass nach so vielen unruhigen Jahren wieder Ruhe und Zuversicht einkehren, wird sich nicht erfüllen. Das Schlimmste kommt noch. Das wahre Ausmaß der Katastrophe wurde lange kaschiert. Über anderthalb Jahrzehnte ist viel zusätzliches Geld ins neue Bundesgebiet geflossen, darunter so markante Haushaltsposten wie »Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen« im Rahmen des Solidarpaktes, »Finanzzuweisungen des Bundes zum Ausgleich der Kosten der politischen Führung«, des Weiteren »Fehlbetragsbundesergänzungszuweisungen« für finanzschwache Bundesländer, es gab sogar ein »Dünnbesiedlerprivileg« samt »Einwohnerveredlung«, bei der die ostdeutschen Flächenländer bei der Geldverteilung mit »5 Prozent mehr gewichtet« wurden. Obendrein flossen erhebliche »Strukturentwicklungsmittel« aus |168|dem Topf der Europäischen Union in die ostdeutschen Haushaltskassen. Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise verfügte noch 2005 mit 3 882 Euro pro Einwohner über etwa ein Drittel mehr Geld als vergleichbare westdeutsche Flächenländer. Doch schon im Folgejahr gab es weniger zusätzliches Geld. Seitdem fallen die Überweisungen aus Brüssel Jahr für Jahr geringer aus und werden spätestens ab 2014 keine nennenswerte Größenordnung mehr erreichen. Nicht anders verhält es sich mit den Solidarpaktmitteln. Jahr für Jahr gibt es weniger zusätzliches Geld, und spätestens 2020 soll dann gänzlich Schluss sein und die neuen Länder nicht mehr erhalten als jedes andere westdeutsche Bundesland.
Das scheint nur recht und billig. Die Verteilung der Länderfinanzen erfolgt über den Länderfinanzausgleich, wirtschaftlich starke stehen für schwache Bundesländer ein. Die extrem bedürftigen fünf neuen Nehmerländer senken zwar das Einkommensniveau aller Bundesländer, doch ihr Fortbestehen ist gesichert, zumindest solange der Länderfinanzausgleich nicht infrage gestellt wird. Die Probleme liegen auch gar nicht so sehr bei den Landesverwaltungen als vielmehr bei den ostdeutschen Kommunen. Die greifen tief in ihre Landeskasse, weil sie nur über wenig andere Einnahmen verfügen. Die Gewerbesteuer, nach dem kommunalen Anteil an der Einkommensteuer die wichtigste Einnahmequelle, bringt den wirtschaftsschwachen Kommunen in Ostdeutschland nur wenig Geld. Ihre Haupteinnahmequelle sind die Finanzzuweisungen des Landes. Solange das Geld reichlich floss, haben die Länder erhebliche Summen an ihre Kommunen weitergereicht. Inzwischen sind Verteilungskämpfe im Gange und werden sich in dem Maße zuspitzen, wie die Einnahmen aus dem Solidarpakt und von der EU zurückgehen. Schon seit Jahren beobachten die kommunalen Spitzenverbände ein sprunghaftes Ansteigen der Kassenkredite. Diese Kredite fallen nicht unter die Maastrichter Stabilitätskriterien und tauchen deshalb auch nicht in der offiziellen Schuldenbilanz auf. Die öffentlichen Verwaltungen sollen damit allenfalls kurzfristige Liquiditätsengpässe überbrücken. Tatsächlich aber finanzieren ostdeutsche Kommunen damit längst ihre Personalkosten und Sozialhilfeausgaben.
|169|Alle zittern. Irgendwann werden die Sparkassen den Geldhahn zudrehen. Was dann passiert, darüber mag sich heute noch niemand den Kopf zerbrechen. Wie eigentlich müssten die öffentlichen Verwaltungen aussehen, die sich die ostdeutschen Bundesländer, gemessen an ihrer Wirtschaftskraft, tatsächlich leisten können? Die Antwort auf diese Frage jagt noch jedem Beamten kalte Schauer über den Rücken. Es lässt sich überhaupt nicht absehen, dass die ostdeutschen Bundesländer ihre Verwaltungskosten auch nur annähernd selbst erwirtschaften. Die Entwicklung ist vorhersehbar. In den kommenden Jahren werden in den öffentlichen Verwaltungen Ostdeutschlands Zehntausende Stellen gestrichen, öffentliche Angestellte werden gekündigt oder vorzeitig in den Ruhestand geschickt. Kindergärten werden geschlossen, Schulen zusammengelegt, Universitäten und Hochschulen werden ihre Studienangebote verringern, ganze Fachrichtungen werden schließen. In Ostdeutschland wird kaum noch Geld für öffentliche Investitionen vorhanden sein, die Baubranche wird noch tiefer in die Krise geraten. Die Verteilungskämpfe zwischen Ländern und Kommunen werden eskalieren, der Zustand der Landes- und kommunalen Straßen wird sich rapide verschlechtern, Dienstleistungen der Daseinsvorsorge wie Wasser, Abwasser, Abfallentsorgung, öffentlicher Personennahverkehr werden noch teurer, die Kommunen werden alles verkaufen, was nicht niet- und nagelfest ist, die Tarifverträge werden gekündigt, es werden öffentliche Billiglohn-Angestellte neben hoch bezahlten Beamten arbeiten …
Die Abwärtsspirale wird sich auch im dritten Jahrzehnt der Wiedervereinigung fortsetzen. Dabei könnte etwas dagegen unternommen werden. Die Gesetze der sechs ostdeutschen Bundesländer ließen sich harmonisieren, in der Folge könnte ein Bundesland in den Grenzen der früheren DDR geschaffen werden. Der Verwaltungsaufwand des dann noch verbleibenden ostdeutschen Bundeslandes ließe sich auf ein Minimum reduzieren, indem Schulen, Universitäten, Behörden budgetiert werden und sich selbst verwalten. Aber das sind nur theoretische Überlegungen, die neuen Bundesregierungen werden sich nicht selbst abschaffen. |170|Auch das ist ein Kennzeichen strukturschwacher Regionen: Die Abgeordnetenmandate in den Landesparlamenten sind schon rein finanziell die lukrativsten Jobs, um die sich Menschen in Ostdeutschland bewerben können.