Wie sie stehen und liegen

Eine wesentliche Verschlechterung der Ertragslage wird bei sanierungsfähigen Unternehmen pauschal in der Weise ausgeglichen, dass dem Unternehmen eine Ausgleichsforderung in Höhe des Betrags der in der für die Übergabe maßgeblichen Bilanz ausgewiesenen Sonderposten nach § 17 Abs. 4 und § 24 Abs. 5 des D-Mark-Bilanzgesetzes zuzüglich des Sechsfachen, im Fall des Absatzes 1 Satz 2 des Dreifachen, des in der Gewinn- und Verlustrechnung nach Absatz 1 ausgewiesenen Fehlbetrages eingeräumt wird.

 

Regelung der Unternehmensrückgabeverordnung (URüV) zur Höhe des Ertragsausgleiches für reprivatisierte Unternehmen

Nach dem Gesetz waren die Liegenschaften und Unternehmen an die alten Eigentümer oder vielmehr deren Kinder, Enkel und Urenkel zurückzugeben, »wie sie stehen und liegen«. Zusätzlich, so wollte es der Gesetzgeber, sollten in der Zeit der deutschen Teilung erlittene Verluste angemessen entschädigt werden. Das betraf sowohl privat genutzte Liegenschaften als auch Unternehmen. Bei Wohngebäuden und Privatland machten die Begünstigten |75|ehemaligen DDR-Bürgern, in Jahrzehnten, unter sozialistischen Verhältnissen redlich erworbene Nutzungsansprüche, streitig. Nicht weniger brachte die Reprivatisierung Volkseigener Betriebe und Betriebsteile das ostdeutsche Blut zum Kochen. Auf gut einem Drittel der VEBs lasteten Rückgabeansprüche von oft mehreren Alteigentümern. Gerlinde Sinn und Hans-Werner Sinn beschrieben in ›Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung‹, Tübingen 1992, das Reprivatisierungschaos am Beispiel eines fiktiven, kleinen Handelsbetriebes, »der zunächst einer jüdischen Familie gehörte, dann vor der Flucht aus Deutschland an ein Mitglied der NSDAP verkauft wurde, von dieser Person nach dem Krieg bei ihrer Flucht nach Westdeutschland zurückgelassen wurde, dann vom kommunistischen Staat an einen DDR-Bürger weiterverkauft wurde, im Zuge der Zwangsverkäufe von 1972 wieder an den DDR-Staat fiel, und aufgrund der Privatisierungsgesetze der Modrow-Regierung kurz vor der Vereinigung erneut an einen DDR-Bürger verkauft wurde.« Die Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen sollten nun den einen unter mehreren potenziellen Eigentümern auswählen. Falls den Mitarbeitern ein Rückgabeanspruch plausibel erschien, wurde ein Bescheid erlassen, der binnen vier Wochen Rechtskraft erlangte – falls niemand Einspruch erhob. Mit diesem Bescheid konnte der Antragsteller das Grundbuchamt zur Umschreibung seines Besitzes veranlassen. Doch die wenigsten Reprivatisierungsverfahren gingen reibungslos über die Bühne. Und die Gesetzeslage wurde immer unübersichtlicher. Es etablierte sich eigens eine juristische Monatszeitschrift, die sich einzig den Fragen der Reprivatisierung widmete. Zu den wichtigsten Gesetzen gehörten neben dem noch von der Modrow-Regierung im März 1990 verabschiedeten Unternehmensgesetz das schon erwähnte Vermögensgesetz und das D-Mark-Bilanz-Gesetz, beide vom 23. September 1990. Im März 1991 folgte das Hemmnisbeseitigungsgesetz und fünf Monate später die Unternehmensrückgabeverordnung. Im August des folgenden Jahres erließ der Gesetzgeber das Vermögensrechtsänderungsgesetz. Dazu kamen Ende 1993 das Bodensondierungsgesetz und eine Grundstückverkehrsordnung, im April 1994 das |76|Sachenrechtsbereinigungsgesetz, im Juni desselben Jahres folgte eine Hypothekenablöseverordnung, im September 1994 das Ausgleichsleistungsgesetz, das Entschädigungsgesetz, das DDR-Schuldrechtsbereinigungsgesetz und schließlich noch die Kraftloserklärung von Reichsmark-Wertpapieren. Der Deutsche Taschenbuch Verlag legte eine 500 Seiten umfassende Kurzfassung der Reprivatisierungsgesetze auf, bei der aus Platzgründen auf Kommentare verzichtet und viele der Gesetze nur in Auszügen gedruckt wurden. In besonders vertrackten Rückgabefällen halfen die Gesetze ohnehin nicht weiter. Solche Fälle reichten die Vermögensämter in der Hoffnung auf eine »gütliche Einigung« an die Treuhandanstalt weiter. Aber auch die anstaltseigene Reprivatisierungsabteilung scheiterte immer wieder an ihren Vermittlungsversuchen, Tausende Eigentumsstreitigkeiten wurden vor Gericht fortgesetzt. Die Unternehmen, die seinerzeit enteignet worden waren und nun zurückgefordert wurden, gab es nicht mehr. Sie waren umgestaltet und den volkseigenen Kombinaten angegliedert worden. Die Treuhandanstalt hatte bereits mit der Zerlegung und mit dem Verkauf der Volkseigenen Betriebe begonnen. »Die entflochtenen Teile«, schrieb Thomas Betz, selbst jahrelang bei der Treuhandanstalt und späteren Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben beschäftigt, »waren aber in keiner Weise mit den enteigneten Betriebsteilen identisch, weil sich über die Jahre und Jahrzehnte technische wie ökonomische Notwendigkeiten ergeben hatten, die einerseits zu teilweisen Stilllegungen, andererseits aber auch zu Neu- bzw. Erweiterungsinvestitionen geführt hatten. Eine eindeutige und klare Zuordnung des enteigneten Betriebes zum heutigen Unternehmen war meistens unmöglich, dagegen ein Netz von Restitutionsansprüchen die Regel. Aufgrund der Unmenge von Anträgen, die die Ämter insbesondere in der Anfangszeit überflutete«, schrieb Thomas Betz weiter in ›Am Ziel vorbei. Die Deutsche Einheit – Eine Zwischenbilanz‹, Berlin 2005, »war es nicht ungewöhnlich, dass Anspruchsteller bei der Treuhand erschienen, die zwar noch keine Berechtigung nachweisen konnten, sich aber gleichwohl – von auf das Vermögensrecht spezialisierten Anwälten unterstützt – |77|auf Rechtsansprüche beriefen und Forderungen in Millionenhöhe anmeldeten. Meistens handelte es sich um Kinder, Enkel oder anderweitige Erben der ehemals Enteigneten, die zwar nicht unbedingt Branchenkenntnisse mitbrachten, aber ihre Rechtsansprüche oder doch zumindest die Aussicht darauf. Teilweise waren sie aber auch gar nicht verwandt, sondern hatten sich die Ansprüche notariell gegen Geld abtreten lassen. Seltener traten die Enteigneten in persona auf, was aber die betriebswirtschaftlichen Erfolgschancen der Reprivatisierung nicht unbedingt erhöhte. Denn abgesehen davon, dass sie sich meistens schon im Rentenalter befanden, waren sie oft seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten nicht mehr in der Branche tätig.«

So fahndeten die Treuhandverantwortlichen in ihrem Unternehmenssammelsurium nach Strukturen, die den enteigneten Unternehmen oder den Ansprüchen der Alteigentümer möglichst nahekamen. Dabei profitierten die Begünstigten von Investitionen aus der DDR-Zeit. Zwar war im Vermögensgesetz eine »Ausgleichsleistung wegen wesentlicher Verbesserung der Vermögenslage« vorgesehen, doch offenbar haben jene, die das Alteigentum in Besitz nahmen, keine nennenswerten Zahlungen geleistet. Die gesetzlichen Bestimmungen waren so gefasst, dass die relevanten, zur Berechnung der Ausgleichszahlungen herangezogenen Bilanzwerte zugunsten der Alteigentümer gedeutet werden konnten. Dagegen sahen die Reprivatisierungsgesetze recht üppige Subventionen im Falle einer mittlerweile eingetretenen Überschuldung vor. Neben dem Anspruch auf eine »Ausgleichsleistung wegen wesentlicher Verschlechterung der Vermögenslage« steigerte vor allem die gesetzlich verbriefte »Ausgleichsleistung wegen wesentlicher Verschlechterung der Ertragslage« die Begehrlichkeiten am Alteigentum. »Dieser Ertragsausgleich«, schrieb Thomas Betz, »war häufig wertmäßig viel bedeutender als der Substanzwert des zurückzuübertragenden Vermögens, überstieg diesen teilweise sogar um ein Vielfaches und avancierte so zum eigentlichen Objekt der Begierde.« Allerdings konnten den Ertragsausgleich nur Unternehmen beanspruchen, denen die Treuhandanstalt zuvor Sanierungsfähigkeit bescheinigte. Dazu prüfte die Reprivatisierungsabteilung |78|die unternehmerischen Pläne des Anspruchstellers. Falls das Sanierungskonzept auf Wohlwollen stieß, ging es an die Berechnung des Ertragsausgleichs. »Völlig unabhängig von der zur Debatte stehenden Branche«, beschrieb Thomas Betz das Prozedere, »von der konkreten Situation des Unternehmens und seinem Finanzbedarf, von den geplanten Produkten und auch vom kurz zuvor eingereichten Unternehmenskonzept, kurz: Unabhängig von der betriebswirtschaftlichen Sinnfälligkeit war die allein maßgebliche Größe für die Berechnung des Ertragsausgleiches der eingetretene Verlust während eines der zurückliegenden Geschäftsjahre. Die Treuhänder reimten fröhlich: ›Nimm Papier und Blei, multipliziere mal drei.‹«

Abbau Ost
chapter_1.html
chapter_2.html
chapter_3.html
chapter_4.html
chapter_5.html
chapter_6.html
chapter_7.html
chapter_8.html
chapter_9.html
chapter_10.html
chapter_11.html
chapter_12.html
chapter_13.html
chapter_14.html
chapter_15.html
chapter_16.html
chapter_17.html
chapter_18.html
chapter_19.html
chapter_20.html
chapter_21.html
chapter_22.html
chapter_23.html
chapter_24.html
chapter_25.html
chapter_26.html
chapter_27.html
chapter_28.html
chapter_29.html
chapter_30.html
chapter_31.html
chapter_32.html
chapter_33.html
chapter_34.html
chapter_35.html
chapter_36.html
chapter_37.html
chapter_38.html
chapter_39.html
chapter_40.html
chapter_41.html
chapter_42.html
chapter_43.html
chapter_44.html
chapter_45.html
chapter_46.html
chapter_47.html
chapter_48.html
chapter_49.html
chapter_50.html
chapter_51.html
chapter_52.html
chapter_53.html
chapter_54.html
chapter_55.html
chapter_56.html
chapter_57.html
chapter_58.html
chapter_59.html
chapter_60.html
chapter_61.html
chapter_62.html
chapter_63.html
chapter_64.html
chapter_65.html
chapter_66.html
chapter_67.html
chapter_68.html
chapter_69.html
chapter_70.html
chapter_71.html
chapter_72.html
chapter_73.html
chapter_74.html
chapter_75.html
chapter_76.html
chapter_77.html
chapter_78.html
chapter_79.html
chapter_80.html
chapter_81.html
chapter_82.html
chapter_83.html
chapter_84.html
chapter_85.html
chapter_86.html
chapter_87.html
chapter_88.html
chapter_89.html
chapter_90.html
chapter_91.html
chapter_92.html
chapter_93.html
chapter_94.html
chapter_95.html
chapter_96.html
chapter_97.html
chapter_98.html
chapter_99.html
chapter_100.html
chapter_101.html
chapter_102.html
chapter_103.html
chapter_104.html
chapter_105.html
chapter_106.html
chapter_107.html
chapter_108.html
chapter_109.html
chapter_110.html
chapter_111.html
chapter_112.html
chapter_113.html
chapter_114.html
chapter_115.html
chapter_116.html