|69|Der Running Gag
Denn das ist doch das Ungeheuerlichste:
Diesen Einheimischen, Deutschen wie wir,
gestatten Sie gnädigst,
im völlig aussichtslosen Wettbewerb mit uns nicht Ausgeplünderten,
sondern Nachkriegsgewinnlern,
sich um ihr eigenes Land neu zu bewerben!
Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar.
Szenen aus einem besetzten Land
Für einen solchen Verkehr waren die Straßen im Beitrittsgebiet nicht ausgelegt. Schwerlasttransporter quälten sich in endlosen Staus über die schmalen, schlecht ausgeschilderten Straßen. Die Fahrer ertrugen das Poltern der Schlaglöcher und bangten, dass ihnen nicht der Ast eines Alleebaumes den Ladecontainer fortriss. Sie lieferten Nahrungsmittel, Kleidung, Haushaltsgeräte, Maschinen, Baumaterial – alle nur erdenklichen, im Westen produzierten Waren, die in bunten, zum Kauf animierenden Aufmachungen daherkamen und den Reiz des Neuen verströmten. Die Nachfrage war überwältigend. Aus dem Westen angereiste Handelsvertreter klopften ungehalten mit den Fingern aufs Lenkrad, wenn sie der Verkehr aufhielt und ihnen in der Hektik, wo die Schnellsten die besten Geschäfte machten, eine unerträgliche Langsamkeit aufgezwungen wurde. Wenn sie Pech hatten, war schon jemand vor ihnen da, vielleicht entging ihnen genau in dem Moment, da sie schon wieder seit einer Ewigkeit nur im Schritttempo vorankamen, ein lukratives Provisionsgeschäft. Immobilienmakler plagten sich, während sie notgedrungen im Stau warteten, mit diesen damals noch recht monströsen Mobiltelefonen und versuchten lautstark, jemanden zu erreichen, damit der Besichtigungstermin für eine Immobilie um zwei oder drei Stunden verschoben werden konnte. Sie spekulierten auf ein stadtnah gelegenes Betriebsgelände, auf dem nichts mehr produziert wurde. Möglicherweise ließ sich die marode Bausubstanz ja abreißen und auf dem Gelände ein Einkaufs- und Bürocenter |70|samt Tankstelle und Hotel errichten und gewinnbringend vermieten.
Nicht weniger eilig hatten es die Erben von Alteigentümern, die alte Familienbesitzungen in Augenschein nehmen wollten, die sie bislang nur von vergilbten Schwarzweißfotos oder vom Hörensagen der verstorbenen Großeltern kannten. Wer hätte sich denn zu Zeiten der deutschen Teilung vorstellen können, dass die neuen, über Jahrzehnte etablierten Eigentumsverhältnisse mit einem parlamentarischen Federstrich revidiert werden und sich das Rad der Geschichte noch einmal rückwärtsdrehen würde, bis zum Kriegsende und zum Beginn der sowjetischen Besatzungszeit. Erst später, auf Druck aus Amerika, mussten auch die während der Zeit des Nationalsozialismus, meist jüdische Familien betreffenden Enteignungen berücksichtigt werden. Es gab zahllose Fälle, dass ein Grundstück zwischen 1933 und 1972 dreimal enteignet wurde – unter den Nazis, während sowjetischer Besatzungszeit und noch einmal zu DDR-Zeiten, und im ungünstigsten Fall von vier Alteigentümern beansprucht wurde. Immobilienspekulanten kauften derartige Forderungen, ein ganzes Heer von Rechtsanwälten spezialisierte sich auf Restitutionsfragen und der Deutsche Bundestag verabschiedete in gewohnter Manier Hunderte Seiten immer neuer Gesetzestexte. Es war kaum zu glauben, wer im Osten plötzlich alles immobile Besitzungen beanspruchte. Menschen, die in ihrem ganzen Leben noch nie einen Fuß auf ostdeutschen Boden gesetzt hatten, eröffneten sich ganz überraschend Erbschaften, von denen sie nie zu träumen wagten. Ehemalige DDR-Bürger profitierten dagegen kaum von der Reprivatisierungsorgie. Enteignungen waren üblicherweise mit Abwanderung oder Flucht verbunden, die Erben lebten meist im Westen. Millionen Altbundesbürger durchforsteten ihre Familienarchive, wühlten auf Dachböden und in den alten Koffern, besuchten Verwandte im Altenheim und ließen sich Details von lange verloren geglaubten Besitzungen erläutern und Vollmachten ausstellen. Im Grunde rekapitulierte jeder noch einmal seine Familiengeschichte, zumindest bis ins dritte Glied. Möglicherweise gab es im Osten doch noch irgendwo Wurzeln, deren Existenz die Familie verleugnet |71|hatte oder die im Laufe der Jahrzehnte in Vergessenheit geraten waren. Die Frage: Hat die Familie im Osten nicht noch irgendwo Eigentum?, entwickelte sich im alten Bundesgebiet zu einem Running Gag. In der Folge wurden in den ersten zwei Jahren nach der Einigung gut 2,17 Millionen Rückübertragungsansprüche gestellt. Von den 18 000 Privatgrundstücken der Stadt Magdeburg beispielsweise lasteten auf 11 000 Restitutionsansprüche. Die Ämter für offene Vermögensfragen und die Gerichte waren hoffnungslos überfordert. Im Nachhinein sollte sich herausstellen, dass sich die allermeisten Anträge als unbegründet erwiesen und überhaupt nur etwa jedem fünften Rückübertragungsanspruch Erfolg beschieden war.
Die Ostdeutschen waren einerseits fasziniert, andererseits abgestoßen von der hektischen Geschäftigkeit, die mit der D-Mark über sie hereinbrach. Zu diesem Zeitpunkt hatten fast alle noch Arbeit. Doch in den Betrieben gab es kaum noch etwas zu tun, ostdeutsche Produkte wurden kaum noch nachgefragt. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatten ehemalige DDR-Bürger existenzielle Ängste, zum ersten Mal sorgten sie sich um den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Die Rechnungen mussten bezahlt werden. Mit der westdeutschen Markt- und Sozialordnung fielen die staatlichen Subventionen weg, vor allem für die Miete und Mietnebenkosten, und auch die westdeutschen Einkommens- und Sozialversicherungssteuern beanspruchten nun einen gehörigen Teil der Einkünfte. Aber was bedeutete das schon: Zum dritten Mal in einem Jahrhundert war ein deutsches Volk an dem Punkt angelangt, an dem es sein ganzes bisheriges Leben infrage stellte und bereit war, ganz neu zu beginnen. Und dieses deutsche Volk war friedlich zu dieser Erkenntnis gelangt und stand nicht vor den Trümmern eines Krieges. Ein solches Maß an Veränderungsbereitschaft, Duldsamkeit und Verständnis für zwangsläufig mit allen Veränderungsprozessen einhergehende Ungerechtigkeiten würde es in Deutschland auf absehbare Zeit nicht wieder geben. Die ehemaligen DDR-Bürger besaßen nun sogar ein kleines »Startkapital« von durchschnittlich einigen tausend D-Mark und ansonsten das monatliche Einkommen aus der Berufstätigkeit. Über nennenswerten |72|Immobilienbesitz, der sich in Zeiten der Währungsumstellung als besonders werthaltig erweist, verfügten die allerwenigsten. Folglich waren ehemalige DDR-Bürger auch nicht kreditwürdig. Ihr Volkseigentum, das nun zu einem Teil an die Erben der früheren Eigentümer zurückging und zum anderen Teil von der Treuhandanstalt in großer Eile zum Verkauf ausgeschrieben wurde, konnten sie folglich nicht erwerben. Die Verkaufsofferten der Treuhandanstalt, so viel stand fest, mussten sich nahezu ausschließlich an den Westen richten. Jedem, selbstverständlich auch den Ostdeutschen, war klar, dass sie nach der Privatisierung ihres Volksvermögens kaum mehr besitzen würden, als sie auch vorher schon hatten: ihre Hoffnung und ihre Arbeitskraft.