|180|Die späte Vereinigung
Am Montagmorgen des 23. Mai 2005 erfasste die Genossen in der PDS-Parteizentrale eine seltsame Unruhe. Zunächst war die Stimmung gedrückt, die PDS hatte bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen nicht gut abgeschnitten. Aber dann gab Oskar Lafontaine dieses Interview und plötzlich war es ganz still im Karl-Liebknecht-Haus. Alle starrten auf den Fernseher. Lafontaine sagte, wenn die PDS und die WASG nicht mehr gegeneinander, sondern gemeinsam anträten, stehe er für eine Kandidatur zur Verfügung. Die Genossen hielten den Atem an. War dies tatsächlich das Angebot, auf das sie seit anderthalb Jahrzehnten vergeblich warteten? Reichte ihnen tatsächlich ein westdeutscher Spitzenpolitiker die Hand und gab ihnen, wofür sie seit anderthalb Jahrzehnten kämpften: Eine gesamtdeutsche Perspektive?
Als sich kurz darauf Gregor Gysi, nach zwei Herzinfarkten immer noch angeschlagen, auf die politische Bühne zurückmeldete und sagte, für eine gesamtdeutsche Perspektive stehe auch er zur Verfügung, gab es kein Halten mehr. Das war, »als hätte die Rakete plötzlich einen neuen Zündsatz bekommen«. Knapp vier Monate später stellte Die Linkspartei, die Wahlverbindung aus der ostdeutschen Partei des Demokratischen Sozialismus und der westdeutsch geprägten Wahlinitiative Arbeit & soziale Gerechtigkeit die viertstärkste Fraktion im Deutschen Bundestag. Und nur zwei Jahre später rückte Die Linke, der Zusammenschluss von Linkspartei. PDS und WASG, bundesweit zur drittstärksten politischen Kraft auf. Im wiedervereinigten Deutschland hatte sich eine neue, links von der SPD stehende politische Kraft etabliert.
Am Anfang stand Ausgrenzung. In der Wende- und Nachwendezeit gehörte Mut dazu, sich zur PDS zu bekennen. Während die westdeutsche CDU und die FDP die DDR-Blockparteien vereinnahmten, zeigte die SPD keinerlei Interesse an der SED-Nachfolgepartei. Im Gegenteil: die sozialdemokratische DDR-Neugründung duldete in der Nachwendezeit keine Parteiübertritte von der PDS zur SPD. Selbst Interessenten, die ihre SED-Mitgliedschaft noch zu DDR-Zeiten gekündigt hatten, waren den SPD-Ortsverbänden |181|suspekt, wurden abgelehnt oder mussten sich hochnotpeinlichen Befragungen unterziehen. Die PDS wurde isoliert, verspottet, angefeindet, und das, obwohl sie im Beitrittsgebiet weit mehr Mitglieder zählte als jede andere Partei.
In diesem feindlich gesinnten Umfeld hatte die PDS Erstaunliches geleistet. Sie hatte ihre Verantwortung für das SED-Erbe nie verleugnet und sich mit ihrer Herkunft auseinandergesetzt. Sie hatte den Spagat zwischen linientreuen Altgenossen und veränderungswilligen Mitgliedern ausgehalten und sich, gleichsam zum Zerreißen gespannt, programmatisch erneuert. Sie hatte die verkrusteten Strukturen eines staatstragenden Parteiapparates aufgebrochen, nach neuen Wegen innerparteilicher Demokratie gesucht und unbelasteten Nachwuchs gefördert. Die PDS hatte ihre Wahlergebnisse im neuen Bundesgebiet stetig verbessert, zog nach den Wahlen 1998 mit eigener Fraktion in den Bundestag, sie gab Hunderttausenden ehemaligen DDR-Bürgern eine politische Heimat und bewahrte ihnen wenigstens ein Stück Identität.
Doch die kritische Auseinandersetzung mit der SED-Vergangenheit wurde der PDS als Scheingefecht angelastet, der Veränderungswille wurde ihr als Wendehalsigkeit ausgelegt, die Hinwendung zu den älteren Mitgliedern als DDR-Nostalgie, und die pragmatische Vorgehensweise bei Regierungsbeteiligungen interpretierten die Medien als Anbiederungsversuch an die etablierten Westparteien. Unter solchen Voraussetzungen konnte die PDS schwerlich ihre auf dem Territorium der DDR liegenden Grenzen überwinden und sich als Bundespartei aufstellen. Mit den Erfahrungen aus 40 Jahren DDR wäre der stärkste Parteiflügel gern dem Vorbild der skandinavischen Sozialdemokratie gefolgt, mit einem deutlichen Bekenntnis zu Marktwirtschaft und Wettbewerb, aber starken Akzenten auf eine solidarische Gesellschaft, auf Chancengleichheit und die ökonomische Unabhängigkeit der Frau. Nur konnten PDS-Abgeordnete diese Forderungen, die, abgesehen von marktwirtschaftlichen Elementen, in der DDR umgesetzt worden waren, nicht vertreten, ohne dass politische Gegner und die Presse sie als DDR-Nostalgiker und ewig Gestrige beschimpften.
|182|Die Grenzen wurden für den Parteivorstand spätestens nach den Bundestagswahlen 2002 deutlich, als die PDS nicht mehr mit eigener Fraktion, sondern nur noch zwei Direktmandaten in den Bundestag einzog und den schon erreichten Fraktionsstatus wieder aufgeben musste. Damit die PDS ihr Stigma als Regionalpartei überwinden konnte, waren bei Bundeswahlen zumindest 5 bis 6 Prozent der Stimmen erforderlich, und das bedeutete 25 Prozent in Ost- und 1 Prozent in Westdeutschland. Die 25 Prozent im Osten waren realistisch, es haperte an diesem 1 Prozent im alten Bundesgebiet. Am 22. Mai 2005, bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, brachte es die PDS auf 0,9 und die westdeutsche Wahlalternative auf 2,2 Prozent. Das war für beide zu wenig. Die PDS bekam keinen Fuß ins alte Bundesgebiet, und die Wahlalternative, die im Sommer 2004 so hoffnungsvoll gestartet war, blieb eine chancenlose Partei. Bis zu diesem Zeitpunkt waren PDS und WASG »feindliche Brüder ohne jede Chance auf Zusammenarbeit«. Gemeinsam brachten sie es bei den Bundestagswahlen praktisch aus dem Stand und unter dem Zeitdruck von nicht einmal vier Monaten Vorbereitung auf 8,7 Prozent der Stimmen.