Unser Mann in Seoul
Dr. Dr. Peter Gey leitet das Kooperationsbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Südkorea. Normalerweise unterhält die Stiftung keine Büros in OECD-Ländern, doch Seoul ist eine Ausnahme. In Südkorea möchte man alles über die Wiedervereinigung Deutschlands wissen. Schon seit Jahren trifft Südkorea, alarmiert durch die deutsche Einigung, Vorbereitungen für ein mögliches Wiedervereinigungsszenario mit Nordkorea. Am 10. Oktober 2003, dreizehn Jahre nach dem Beitritt der ostdeutschen Bundesländer, referierte |221|Peter Gey in Seoul über ›Die Wirtschaftsbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1949–1989‹. Anlass bot eine Konferenz der Koreanisch-Deutschen Gesellschaft für Wirtschaftswissenschaften und des Korea Institute for International Economic Policy zum Thema »Wirtschaftsbeziehungen zwischen Nord- und Südkorea: Evaluierung und Perspektiven«. In seinem Vortrag beschäftigte sich Peter Gey mit der Aufzählung einer ganzen Reihe so genannter geldwerter Vorteile, die der DDR von Seiten der Bundesrepublik gewährt wurden. Dazu gehörten Geschenksendungen, im DDR-Jargon Westpakete, dazu zählten aber auch unmittelbare Zahlungen an die DDR wie die Transitpauschale und Straßenbenutzungsgebühren und zu guter Letzt auch der Häftlingsfreikauf, von dem die DDR aus Sicht von Peter Gey ebenfalls stark profitierte. »Die Vorteile«, erörterte er in Seoul, »welche die DDR in Gestalt von Zins- und Zollersparnissen sowie Mehrwertsteuerkürzungen aus dem Innerdeutschen Handel zog, wurden für die 80er Jahre durchschnittlich auf rund 750 Mio. DM veranschlagt. Die unmittelbaren Zahlungen der Bundesrepublik an die DDR in Form der Transitpauschale, Investitionsbeteiligungen, der Postpauschale und Straßenbenutzungsgebühren beliefen sich im gleichen Zeitraum jahresdurchschnittlich auf 1175 Mio. DM. Zusammen ergibt das rund zwei Milliarden D-Mark, die der DDR mittel- oder unmittelbar zugute kamen.« Obendrein, erläuterte Peter Gey in Seoul, »kamen der DDR noch vielfältige geldwerte Vorteile aus dem privaten Post- und Besuchsverkehr zugute. Schätzungen zufolge betrug allein der Wert der Paketsendungen jährlich etwa eine Milliarde D-Mark. Im Jahre 1980 wurden rund 75 Mio. Briefe und 27 Mio. Pakete und Päckchen aus der Bundesrepublik in die DDR geschickt. Aus der DDR trafen rund 70 Mio. Briefe und 9 Mio. Päckchen und Pakete in der Bundesrepublik ein. Unter Berücksichtigung der unmittelbaren Geschenktransfers, der Gewinne der Handelsketten Intershop und GENEX und der Beträge aus dem Zwangsumtausch und den Visa-Gebühren haben die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger weitere rund 1,2 Mrd. DM aufgewendet, die für die DDR geldwerte Vorteile waren. Bis 1989 konnten im Rahmen der |222|so genannten Familienzusammenführung 250 000 Personen die DDR verlassen. Die Bundesregierung übergab der DDR in jedem einzelnen Fall eine in ihrer Höhe schwankende Warenlieferung als Gegenleistung. Seit 1963 versuchten die Bundesregierungen, in der DDR aus politischen Gründen inhaftierte Menschen freizukaufen. Auch hierfür musste die Bundesregierung Warenlieferungen zugunsten der DDR finanzieren. Pro Häftling mussten zunächst 40 000 DM und ab 1977 rund 96 000 DM von der bundesdeutschen Seite gezahlt werden. Diese Mittel waren im Haushalt des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen eingestellt. Zwischen 1963 und 1989 erlangten insgesamt 31 755 Häftlinge die Freiheit.«
Diese wirtschaftliche Bilanz aus Zeiten des Kalten Krieges zog Peter Gey nicht von ungefähr, denn in Südkorea stellt man sich die Frage, ob unkontrollierte Wiedervereinigungsszenarien verhindert werden könnten, indem der südliche, wirtschaftlich prosperierende Landesteil den Norden unterstützt und dadurch dessen Wirtschaft wenigstens auf niedrigem Niveau stabilisiert. Mitte der 90er Jahre war die nordkoreanische Wirtschaft völlig zusammengebrochen, die Bevölkerung konnte nicht mit dem Notwendigsten versorgt werden. Schätzungen besagen, dass allein Mitte der 90er Jahre in Nordkorea zwischen 220 000 und 3,5 Millionen Menschen verhungert sind. Und so schloss der Vortrag des deutschen Wissenschaftlers mit der rhetorischen Frage: »Warum haben die Transferzahlungen der Bundesrepublik Deutschland an den Staatshaushalt der DDR den Niedergang der DDR-Wirtschaft nicht verhindert? Selbst noch beträchtlich höhere Mittelzuflüsse in die DDR hätten die fortschreitende Erosion der dortigen Wirtschaft nicht verhindern können, weil die Unwirtschaftlichkeiten einer sozialistischen Planwirtschaft eine Größenordnung haben, die von Transferzahlungen nicht annähernd erreicht werden kann. Gleichzeitig scheiterten alle Versuche, das System der Planung und Lenkung des Wirtschaftsgeschehens leistungsfähiger zu machen. Das ›Sowjetische Modell‹ widerstand in der DDR und in allen übrigen Ländern, in denen es eingeführt worden war, allen Versuchen, es ernsthaft zu reformieren.«
|223|Diese und noch andere deutsch-deutsche Preziosen hatte Peter Gey am 10. Oktober 2003 in Seoul zum Vortrag gebracht. Es scheint fast, als habe er dort, so fern der Heimat, Ansichten aus der Zeit des Kalten Krieges konserviert. Die Konferenzteilnehmer haben interessiert zugehört. Ahnten sie möglicherweise, dass die Darlegungen des deutschen Gastredners eine recht einseitige Sichtweise wiedergaben? Erschien ihnen die westdeutsche Gönnerpose ein wenig aufgesetzt? Folgerten sie für sich selbst, dass allenfalls die Westdeutschen von der Teilung profitieren konnten und der kleinen, historisch benachteiligten DDR die Konditionen diktierten? In Asien ist man traditionell sehr höflich. Ein Gast wird niemals mit unangenehmen Fragen bedrängt oder gar öffentlich bloß gestellt. Äußerlich ist nicht zu erkennen, was sich hinter einem freundlichen Lächeln verbirgt.