Insichverbindlichkeiten einer geschlossenen Staatsverwaltungswirtschaft
Karl Albrecht Schachtschneider hat die Niederlage vor dem Bundesverfassungsgericht nie ganz verwunden. Er wandte sich neuen Aufgaben zu, aber das Fortbestehen einer rechtswidrigen, für das |60|wiedervereinigte Deutschland ruinösen Altschuldenregelung hat den Rechtsprofessor weit stärker getroffen, als er sich eingestehen mag. Die entscheidenden Fragen sind niemals geklärt worden. »Ich bin bis zum Schluss nicht dahintergekommen, welche Absprachen da gelaufen sind. Besonders der Deal zwischen dem Bundesfinanzministerium und den Banken ist mir immer ein Rätsel geblieben. Wer hat es ermöglicht, dass westdeutsche Banken die DDR-Staatsbanken noch vor dem 3. Oktober 1990 gekauft haben? Das Bundesverfassungsgericht hat nichts unternommen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Die haben überhaupt nicht nach den Hintergründen gefragt! Der eigentliche Prozessstoff wurde nie geklärt!« Obwohl nun schon einige Jahre vergangen sind, spricht Karl Albrecht Schachtschneider über das Verfahren, als sei es erst gestern gewesen. Andererseits sei er damals regelrecht erleichtert gewesen, als es endlich vorbei war. »Man fühlte sich wie im Zentrum eines Orkans, drinnen ist es unheimlich still, aber man spürt richtig, wie es draußen tobt.« Eine maßgeblich in die Schuldenproblematik involvierte Bank hatte ihn zum damaligen Zeitpunkt sogar zu sich eingeladen. »Ich bin da nicht hingefahren. Das war mir nicht geheuer.«
So unbefriedigend das Verfahren auch ausging, so muss doch gesehen werden, dass die verfehlte Währungsumstellung auf dem Wege der Rechtsprechung, ganz gleich, wie sich das Bundesverfassungsgericht positioniert hätte, nicht korrigiert werden konnte. Die Richter standen auf dünnem Eis. Auf dem früheren Territorium der DDR hatte sich in der ersten Hälfte der 90er Jahre eines der schlimmsten Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte abgespielt. Die Menschen hatten einiges durchgemacht. Zum damaligen Zeitpunkt gab es noch Hoffnungen auf einen baldigen Aufschwung. Alle schauten ängstlich, wie sich die Dinge in Ostdeutschland entwickelten. Niemand wollte an die Wunden rühren, die wirtschaftlicher Kahlschlag und Bevormundung bei den Menschen hinterlassen hatten. Die gesamte Treuhandpolitik wäre ins Unrecht gesetzt worden, wenn die Bundesrichter die Altschuldenregelung für verfassungswidrig erklärt hätten. »Viele Not leidende Unternehmen«, sagt Karl Albrecht Schachtschneider, »sind |61|von der Treuhandanstalt zulasten des Bundes verkauft worden, denn die Altschulden wurden entweder von dem verkehrswertorientierten Kaufpreis abgesetzt oder von der Treuhandanstalt übernommen. Wegen der Altschulden wurden die verkauften Unternehmen entgegen ihrem Wert haushaltswidrig verschleudert, aber von den Altschulden saniert. Opfer sind auch die Arbeitnehmer, jedenfalls der Unternehmen, die durch die Altkredite die Sanierungsfähigkeit eingebüßt haben, aber auch die, welche die rigorose Sanierungspolitik der Unternehmenskäufer hinnehmen mussten.« Karl Albrecht Schachtschneider schätzt den Schaden, der dem wiedervereinigten Deutschland durch die verfehlte Altschuldenregelung entstanden ist, auf mindestens 500 Milliarden D-Mark. Werden auch die infolge des Industriesterbens auf unbestimmte Zeit notwendigen Transferleistungen von West nach Ost in Rechnung gestellt, muss der Schaden noch sehr viel höher beziffert werden. Entstanden war das Problem durch handwerkliche Fehler bei der Währungsumstellung, indem wertlose Ostmark-Verrechnungseinheiten in reale D-Mark-Schulden verwandelt wurden. »Die Währungsumstellung«, sagt Karl Albrecht Schachtschneider, »wurde so schlecht wie nur irgend möglich gemacht.«
Das wenigstens sahen die Verfassungsrichter genauso, auch wenn sie ihre Kritik nicht so auf den Punkt brachten wie der Beschwerdeführer. »Ob der Gesetzgeber dabei die zweckmäßigste Lösung gewählt hat«, schrieben die Verfassungsrichter, »ist vom Bundesverfassungsgericht nicht zu entscheiden. Das gilt auch für die von dem Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vertretene Ansicht, dass es ökonomisch sinnvoller und finanziell günstiger gewesen wäre, alle Guthaben und Forderungen, die innerhalb der geschlossenen sozialistischen Staatsverwaltungswirtschaft entstanden waren, zu verrechnen, die Differenz aus öffentlichen Mitteln zu decken und lediglich die externen Forderungen aufrechtzuerhalten, die einerseits aus den Spareinlagen der Bevölkerung, andererseits aus den Außenhandelsbeziehungen der Deutschen Demokratischen Republik stammten. Verfassungsrechtlich wäre der Gesetzgeber an einem solchen Weg nicht gehindert |62|gewesen. Die Verfassung verlangte aber auch nicht, dass gerade er eingeschlagen wurde.«
Angesichts der allumfassenden, in der damaligen Bundesregierung und im Bundesfinanzministerium versammelten Inkompetenz muss doch einmal gefragt werden, ob es wirklich klug war, vom westlichen Europa, der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, Westdeutschland mit der DDR allein zu lassen. Die Bundesrepublik Deutschland hätte bei einem völkerrechtlich so sensiblen und volkswirtschaftlich so anspruchsvollen Problem wie dem Zusammenwachsen zweier Staaten dringend der Unterstützung bedurft. Was war überhaupt die Motivation bei den Machern der D-Mark-Umstellung? Für die Bundesregierung war die sogenannte Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, daran besteht überhaupt kein Zweifel, zuallererst ein Konjunkturprogramm für die westdeutsche Wirtschaft. Beginnend mit dem Tag der Währungsumstellung wurde für die westdeutsche Wirtschaft ein Nachfrageschub von 20 bis 25 Prozent ausgelöst, die Arbeitslosigkeit sank Anfang der 90er Jahre im alten Bundesgebiet noch einmal für einige Jahre deutlich unter die Zwei-Millionen-Grenze. Neben diesem vorübergehenden Konjunkturschub auf Kosten Ostdeutschlands fällt im Zusammenhang mit der D-Mark-Umstellung eine Zahl ins Auge. Der Geldmengenausweitung von rund 180 Milliarden D-Mark standen zum Zeitpunkt der Währungsumstellung rund 180 Milliarden D-Mark Altschulden gegenüber. Ist das ein Zufall oder wurden die Umtauschkurse tatsächlich so festgelegt, dass die ostdeutsche Wirtschaft mit fast genau jener Summe, die von der Bundesbank an neuen Geldscheinen gedruckt wurde, beim Bund in der Kreide stand? Beabsichtigte die Bundesregierung, die ostdeutsche Bevölkerung, indem sie ihre sozialistischen Schulden an die Bundesregierung zahlte, für die Verringerung des westdeutschen Staatsdefizits arbeiten zu lassen? War den Verantwortlichen tatsächlich nicht bewusst, dass diese Rechnung niemals aufgehen konnte, weil beide Staaten nun eins waren und sich Deutschland mit sich selbst betrog?
Die Altschuldenfrage trifft den Nerv der deutschen Einigung. Auch wenn sich Karl Albrecht Schachtschneider, wie Juristen sagen, |63|in der Sache nicht durchsetzen konnte und die entscheidenden Fragen unbeantwortet blieben, so hat er doch ein heißes Eisen angepackt und ein bisschen darauf herumgehämmert. »Im Übrigen«, sagt der Staatsrechtler, »hat die Aufwertung der Währung der DDR durch die Währungsumstellung um fast 500 Prozent den Unternehmen in den neuen Ländern jede Chance genommen, ihre Märkte im In- und Ausland zu behaupten, sodass ein Sanierungsbeitrag der Wirtschaft der ehemaligen DDR aus eigener Kraft weitestgehend unmöglich gemacht worden ist. Die Währungsumstellung war als solche, unabhängig von den Altschulden, grobes Unrecht und eine schwere Verletzung der Wirtschaftsgrundrechte, die auch und wesentlich die Persönlichkeit der wirtschaftenden Menschen schützen sollte, vor allem deren Möglichkeit, sich aus eigener Leistung zu unterhalten.«