Der omnipotente Dr. Kohl

Ich wollte Ehrlichkeit, kein Anheimeln. Zunächst tat Kohl überfreundlich, doch politisch hat er unsere Anliegen nie ernst genommen. Als er mich später nicht mehr für wichtig hielt, ging er respektlos mit mir um. Spätestens nach der Wende war ich nur noch der Klassenfeind.

 

Hans Modrow, letzter Ministerpräsident der DDR, in ›Ich wollte ein neues Deutschland‹, Berlin, 1998

Am Morgen des 10. November erwachten die Deutschen in einem anderen Land. Die Medien hatten die Wiedervereinigung als Seifenoper inszeniert, ein rührseliges Stück deutsch-deutsche Geschichte, das sich im Fernsehsessel wunderbar miterleben ließ, die triste Wirklichkeit aber weitgehend ausblendete. Was in dieser Nacht geschehen war, sprengte jeden Rahmen. Die Trennung zwischen zwei Staaten, die über Jahrzehnte ganz unterschiedliche Entwicklungen genommen hatten, war aufgehoben. Zwei Staaten mit verschiedenen Währungen und Bankensystemen, mit gänzlich anderen Eigentumsbegriffen und Gesetzen, mit unterschiedlichen |273|Subventionsrichtlinien, Sozialversicherungen, Bildungssystemen hatten plötzlich keine Grenze mehr. Das hätte einiger Jahre Vorbereitung bedurft. Welche Möglichkeiten standen denn jetzt überhaupt noch offen?

Am 28. November, drei Wochen nach Grenzöffnung, präsentierte Helmut Kohl dem Bundestag sein ›Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas‹. Das Programm war in großer Eile und unter strenger Geheimhaltung in Kohls Privatwohnung entstanden. Der Kanzler hatte die wenigen Mitwirkenden selbst ausgewählt und persönlich angesprochen. Der Text wurde auf der Schreibmaschine seiner Frau Hannelore getippt. Zum ersten Mal fielen im Bundestag jene Worte, die ostdeutsche Unterhändler der Bundesregierung schon seit Jahren nahezubringen versuchten, »nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland«. Helmut Kohl sagte, er sei sicher, dass die Einheit kommen werde, wenn die Menschen in Deutschland sie wollten, und hatte dabei »eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung« im Sinn, die »eine demokratisch legitimierte Regierung in der DDR zwingend voraussetzt«.

Sein »emotionales Schlüsselerlebnis« hatte Helmut Kohl allerdings erst am 19. Dezember 1989, als er sich mit Ministerpräsident Hans Modrow zu Verhandlungen in Dresden traf. Hunderttausende Menschen bereiteten dem Bundeskanzler einen unvergesslichen Empfang. »Mein Ziel bleibt«, sagte Helmut Kohl vor der Ruine der Dresdener Frauenkirche, »wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation.« Die Begeisterung kannte keine Grenzen. Allerdings hatte Helmut Kohl die Reaktion der Dresdener Bevölkerung genau kalkuliert. Kurz zuvor hatte der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth in Dresden ganz ähnliche Erfahrungen gemacht und seinem Parteifreund davon berichtet. Der CDU-Politiker war schon bei seiner Ankunft auf dem Dresdener Flughafen mit einem Spruchband empfangen worden, auf dem, in Anlehnung an Friedrich Schillers Wallenstein, zu lesen war: Spät(h) kommt ihr – Doch ihr kommt! Allein der weite Weg entschuldigt euer Säumen.

|274|Gregor Gysi, neu gewählter Vorsitzender der vor wenigen Tagen von SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) in PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) umbenannten, dramatisch an Mitgliedern verlierenden Staatspartei, sprach zur gleichen Zeit, als Helmut Kohl vor der Frauenkirche in Dresden redete, auf dem Platz der Akademie in Ostberlin. Sein Appell klang verzweifelt. »Und haben wir denn jahrelang Gorbatschow bewundert und auch geliebt, nur um jetzt von der Bundesrepublik vereinnahmt zu werden! Also lasst uns unseren eigenen Weg gehen, unsere eigene Identität finden.« Gregor Gysi konnte in Ostberlin nicht annähernd die Begeisterung wecken wie Helmut Kohl während seiner Rede in Dresden.

Bei dem Treffen offenbarte Hans Modrow dem Bundeskanzler einen dringenden Finanzbedarf von 15 Milliarden D-Mark, den er als »eine Art Lastenausgleich« für den wirtschaftlichen Schaden sah, der Ostdeutschland durch die Grenzöffnung entstanden war. Kohl reagierte ausweichend auf Modrows Ansinnen und meinte, man solle statt von Lastenausgleich doch lieber von einem »Solidaritätsbeitrag« sprechen. Tatsächlich beschritt Helmut Kohl, wie ein Autorenteam der Bundeszentrale für Politische Bildung später schreiben sollte, längst »unbeirrbar den Weg zur Wiedervereinigung. Die politische Entwicklung in Deutschland hatte die Politiker – zumindest diejenigen der DDR – längst hinter sich gelassen. Bundeskanzler Kohl war einer der wenigen, die dies nach Dresden spürten.«

Abbau Ost
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