Anspruch und Wirklichkeit

»Erst einmal«, sagt Thomas Gensicke, »wollte ich die üblichen Angriffe auf die angebliche Ossi-Mentalität zurückweisen. Dieses Bild von den jammernden, durch die DDR-Gesellschaft deformierten Ossis hält keiner wissenschaftlichen Betrachtung stand.« Für seine selbst unter Berufskollegen immer noch sehr ungewöhnlichen Thesen hatte sich der Philosoph und Sozialwissenschaftler ein denkbar schwieriges Publikum ausgesucht, jenes konservative, bürgerliche Milieu, wie es auf den Diskussionsforen der Akademie für politische Bildung Tutzing anzutreffen ist. »Mindestens zwei Drittel des Publikums«, erinnert sich Thomas Gensicke an seinen Vortrag am 18. Februar 2005, »stammte aus dem konservativ geprägten Bildungsbürgertum. Nur ein kleiner Teil zeigte sich überhaupt aufgeschlossen.« Zu seinen Vorrednern gehörte Joachim Gauck, der frühere Rostocker Pastor und langjährige Bundesbeauftragte |204|für die Unterlagen der Staatssicherheit, der für seine Lehrsätze von den unterdrückten, durch den Überwachungsstaat geprägten ostdeutschen Untertanen viel Beifall erhielt. Und so stellte Thomas Gensicke an den Anfang seines Vortrages den eigenen Lebenslauf: Geboren 1962 in Magdeburg, 1978 Abschluss der zehnjährigen, Polytechnischen Oberschule, im Anschluss Berufsausbildung mit Abitur, Facharbeiter für Maschinenbau, Unteroffizier bei der Nationalen Volksarmee, dann Studium der marxistisch-leninistischen Philosophie in Leipzig und nach dem Abschluss, ab September 1989, die Anstellung an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften des ZK der SED.

Thomas Gensicke hatte zu DDR-Zeiten eine Bilderbuchkarriere hingelegt. Nach der Wende und der Auflösung der Akademie wechselte er von 1990 bis 1991 an das Berliner Institut für sozialwissenschaftliche Studien und ging von dort für zehn Jahre an die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Dort schrieb er seine Promotion zum Thema ›Die neuen Bundesbürger. Eine Transformation ohne Integration‹, begann 2001 als Projektmanager bei TNS Infratest in München, heiratete zwei Jahre später eine Münchener Kollegin und ist seit 2004 Bereichsleiter »Staat und Bürger« beim Münchener Sozialforschungsinstitut. Thomas Gensicke ist im wiedervereinigten Deutschland nicht nur die berufliche Transformation gelungen, er hat sich nach eigenen Worten auch problemlos in die Familie seiner Frau integriert. Und trotzdem steht er zu seiner Herkunft. Wie passt das zusammen?

Ost- und Westdeutsche halten sich, das zeigen alle wissenschaftlichen Befragungen, für sehr verschieden. Jede Seite hat ihre ganz eigenen Gründe, aus denen sie der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe Eigenschaften abspricht, durch die sie sich selbst auszuzeichnen meint. Solche Betrachtungen, wie im Übrigen die meisten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, gründen sich auf möglichst repräsentative Befragungen und daraus gewonnene Verallgemeinerungen. Solche Analysen werden der Sichtweise des Einzelnen nicht immer gerecht, aber es werden gesellschaftliche Trends aufgezeigt. So wird das westdeutsche Massenbewusstsein von der Überzeugung getragen, das leistungsfeindliche, auf kollektivistische |205|Zwänge angelegte DDR-Regime habe seine Bürger derart geschädigt, dass sie den aufrechten Gang kaum noch erlernen, die Verwandlung vom willfährigen Untertanen zum freien, selbstbestimmten Bürger nur noch schwerlich vollziehen könnten. Diese These von den mental geschädigten Ostdeutschen als Systembremser wird aus Gründen der politischen Korrektheit selten offen angesprochen, dennoch dringt diese Sichtweise in die westdeutsch dominierten Medien und in Forschungsberichten immer wieder durch. Das typisch Ostdeutsche, wenn es das denn tatsächlich geben sollte, hat im wiedervereinigten Deutschland keine Stimme. Kämen die Ostdeutschen allerdings zu Wort, so würde sich zeigen, dass sie den Westdeutschen noch weit unversöhnlicher gegenüberstehen und die Altbundesbürger in ihrer Abneigung sogar noch übertreffen. Zumindest gründet sich die Meinung ehemaliger DDR-Bürger von den arroganten und geldgierigen, bürokratischen und oberflächlichen Altbundesbürgern auf sehr gegenständliche, besonders in den ersten Nachwendejahren gewonnene Erfahrungen.

Das Institut für Demoskopie Allensbach hat 1992 und noch einmal 2004 Ost- und Westdeutsche zu ihrer Meinung über die jeweils andere Bevölkerungsgruppe befragt und wollte wissen, ob Gemeinsamkeiten oder Unterschiede überwiegen. Bei der ersten Befragung zwei Jahre nach der Wende meinte gut die Hälfte der Westdeutschen, die Unterschiede würden überwiegen, 30 Prozent mochten sich da nicht festlegen und nur 18 Prozent meinten, es gäbe mehr Gemeinsamkeiten. In derselben Befragung äußerten 70 Prozent der Ostdeutschen, im Vergleich mit den Westdeutschen würden die Unterschiede überwiegen. Nur jeder Zehnte sah mehr Gemeinsamkeiten. Zwölf Jahre später meinte immer noch knapp die Hälfte der Ostdeutschen, die Unterschiede überwiegen, was zu diesem Zeitpunkt nur noch 24 Prozent der Westdeutschen bejahte. Dagegen sahen 2004 bereits 38 Prozent der Westdeutschen mehr Gemeinsamkeiten, bei den Ostdeutschen waren es lediglich 17 Prozent. Offenbar gibt es im Osten eine tiefsitzende Verbitterung. Es steht außer Frage, dass eine Nation, in der sich Landsleute so etwas angetan haben, wie das, was in der ehemaligen |206|DDR in den ersten Nachwendejahren geschehen war, vorerst keinen Frieden finden kann.

Doch unabhängig von der ökonomisch gescheiterten Einigung und dem daraus erwachsenden Groll der auf östlicher Seite geborenen Leidtragenden zeigen alle ernst zu nehmenden empirischen Untersuchungen, dass Ost- und Westdeutsche auch nach vier Jahrzehnten Trennung Menschen des gleichen Schlages geblieben sind. Eine Face-to-Face-Befragung, die TNS Infratest im November 2003 bei rund 2600 Ost- und Westdeutschen durchgeführt hatte, kam zu dem Ergebnis, dass Erfolgs- und Leistungsorientierung im Leben der Ost- und Westdeutschen den gleichen Stellenwert besitzen. Beurteilt wurden bei dem sogenannten McKinsey-Test grundlegende Einstellungen wie Erfolgsorientierung, Zielstrebigkeit und Problemlösungsfähigkeit, Durchsetzungsvermögen und Flexibilität. Die Beurteilung bewegte sich zwischen eins und sechs, eins für »stimmt gar nicht«, sechs stand für »stimmt voll und ganz«. Die Befragungsergebnisse wurden in einem Index zusammengefasst, der Ost- und Westdeutsche mit 4,7 für ihre Auffassungen zur Erfolgs- und Leistungsorientierung sozusagen gleich benotet. Interessant ist dabei der Vergleich mit anderen Ländern, in denen der McKinsey-Test ebenfalls durchgeführt wurde: Großbritannien (4,4), Frankreich (4,3), Polen und Italien (4,2). Im Hinblick auf die Erfolgs- und Leistungsorientierung gibt es folglich kaum Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen, wohl aber im Vergleich mit anderen Nationen.

Auch bei der Bewertung sozialer Standards wie beispielsweise Pflichtbewusstsein, Prinzipientreue, Teamfähigkeit und Kontaktfreudigkeit liegen Ost- und Westdeutsche nah beieinander. Zur Beurteilung, in welchem Maße Menschen solche Standards erfüllen, hat sich der so genannte Big-Five-Persönlichkeitstest herauskristallisiert. Dieser Test basiert auf der Erfahrung, dass sich jede Persönlichkeit durch fünf Dimensionen (Big Five) beschreiben lässt. Das sind Kontaktfreudigkeit (Aufgeschlossenheit für äußere Eindrücke), Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität und Offenheit (im Sinne von Veränderungsbereitschaft). Die fünf Dimensionen werden anhand bestimmter Fragestellungen |207|abgeprüft und zwischen eins (stimmt gar nicht) und fünf (stimmt voll und ganz) eingeordnet. Danach charakterisierten sich Ost- und Westdeutsche ähnlich gewissenhaft, ordentlich, rücksichtsvoll und kooperativ. Allerdings zeigte der Persönlichkeitstest auch Differenzen. Im Hinblick auf Kontaktfreudigkeit, Teamfähigkeit, Verlässlichkeit, systematische Arbeitsweise und Hartnäckigkeit beim Erreichen von Zielen schnitten die Ostdeutschen durchweg etwas besser ab. Sozialstudien billigen ehemaligen DDR-Bürgern beim Lösen von Problemen ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit und systematischer Denkweise zu, während Altbundesbürger eher zu einer zufallsorientiert-spielerischen Denkweise neigen. Die Ursachen sehen Sozialwissenschaftler in der systematisch aufgebauten Wissensvermittlung im Bildungssystem der DDR und der eher unsystematisch-zusammenhanglosen an westdeutschen Bildungseinrichtungen. Allerdings lassen sich damit keine mentalen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen begründen. Thomas Gensicke erklärt diese »kühl-distanzierte Haltung beider Bevölkerungsgruppen zueinander« mit der mangelhaften staatsbürgerlichen Integration ehemaliger DDR-Bürger. »Die alten Bundesbürger brauchten bisher die Distanz zu den neuen Bundesbürgern, um ihre zunehmenden Systemzweifel verdrängen zu können. Und insbesondere diejenigen neuen Bundesbürger, die die Einheit stark getroffen hat, benötigten wiederum den stereotypischen Wessi, um ihr Selbstwertgefühl abgrenzend zu wahren.«

Auch wenn sich Ost- und Westdeutsche bei ihrer Erfolgsorientierung und der Bewertung sozialer Standards nicht auseinanderdividieren lassen, so zeigen sich bei der Beurteilung des bundesdeutschen Gesellschaftssystems geradezu eklatante Unterschiede. Auf die Fragestellung beispielsweise: »In unserer Gesellschaft geht es im Allgemeinen gerecht zu«, tendieren die Ostdeutschen deutlich zu »stimmt nicht«, während die Westdeutschen ihrer Gesellschaft ein weit höheres Maß an Gerechtigkeit zubilligen. In allen Fragestellungen wird das bundesdeutsche Gesellschaftssystem von den Ostdeutschen zum Teil deutlich schlechter bewertet als von den Westdeutschen. Und mehr noch, obwohl |208|nur eine kleine Minderheit der ehemaligen DDR-Bürger wieder in Verhältnissen leben möchte, wie sie zu DDR-Zeiten geherrscht hatten, geben sie der DDR in vielen Detailfragen den Vorzug. Was persönliche Freiheit betrifft, Lebensstandard, Wirtschaft, das politische System und die Mitwirkungsmöglichkeiten des Einzelnen, schätzen die ehemaligen DDR-Bürger das wiedervereinigte Deutschland im Vergleich zur DDR besser ein. Dann aber, bei der Frage nach den beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten, dreht sich die Einschätzung deutlich zugunsten der DDR. Ebenso Anforderungen an die Gleichberechtigung der Frau, den Schutz vor Kriminalität, an soziale Gerechtigkeit, an das Schulsystem und das gesellschaftliche Miteinander sehen Ostdeutsche in der DDR weit besser erfüllt als im heutigen Deutschland. Und mehr noch, im Laufe der Jahre hat die Bundesrepublik bei den Ostdeutschen im Systemvergleich stetig verloren und die DDR dazugewonnen. Seit einigen Jahren betrachten auch Westdeutsche ihr gesellschaftliches Umfeld zunehmend kritischer. Sie gleichen sich darin der Sichtweise der ehemaligen DDR-Bürger an. »Ein politisches System«, sagt Thomas Gensicke, »das seit der Wiedervereinigung noch keine wirklich und dauerhaft handlungsfähige Regierung hervorgebracht hat (permanente Blockademöglichkeit des Bundesrates), hat einen Konstruktionsfehler, der erst in Situationen großer Herausforderungen offen zutage tritt.« Wie ermutigend wäre es gewesen, wenn derlei Feststellungen schon 1990 getroffen und von der westdeutschen Bevölkerung mitgetragen worden wären. Durch die Erfahrungen mit zwei deutschen Gesellschaftsentwürfen sind die ehemaligen DDR-Bürger ihrer Zeit voraus. Ihr Anspruch an ein wirklich demokratisches und kinderfreundliches Gemeinwesen, an die Gleichstellung der Frau, an eine unbürokratische und möglichst gerechte Gesellschaft und an ein zukunftsfähiges Bildungssystem wird das wiedervereinigte Deutschland durch die nächsten Jahrzehnte begleiten.

Abbau Ost
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