Meckel hat nicht verstanden

Schon eine Woche vor dem eigentlichen Termin erläuterte der Hofmarschall die Zeremonie in allen Einzelheiten. Noch an jenem 5. Mai 1989, als die königliche Kutsche bereits in die Hofeinfahrt des Buckingham Palace einbog, wiederholte der Hofmarschall eindringlich: »Sie stellen keine Fragen, Sie haben lediglich auf die Fragen Ihrer Majestät zu antworten.« Die Kutsche hielt. Joachim Mitdank stieg aus und nahm vor der Ehrenkompanie Haltung an. Dann öffnete sich die Tür zum Thronsaal und er näherte sich langsam, gemessenen Schrittes Elisabeth II. und überreichte ihr sein Beglaubigungsschreiben als Botschafter der DDR in London und Dublin. Die Queen nahm ihn in Augenschein und fragte, wie er sich in London fühle und ob er schon etwas von der Stadt gesehen habe?

Der Diplomat antwortete, London gefiele ihm sehr gut, er habe bereits einiges von der Stadt gesehen und sich schon ein wenig |282|eingelebt. »Ich empfinde es als eine große Ehre«, fügte er noch hinzu, »an dem Tag empfangen zu werden, an dem in Berlin vor 44 Jahren die Viermächteerklärung über die Niederlage Deutschlands unterschrieben und der Zweite Weltkrieg beendet wurde.«

Königin Elisabeth schien ein wenig überrascht. »Sie haben recht, ich erinnere mich an diese Zeit. Damals diente ich in der Rheinarmee.«

»Ich weiß«, entgegnete Joachim Mitdank, »ich habe Sie als junge Sanitäterin gesehen.«

»Wo und wann haben Sie mich denn gesehen?«

»Vor einigen Tagen, in einem Dokumentarfilm des britischen Fernsehens.«

Die Queen lachte. Sie wünschte dem Botschafter viel Erfolg bei seiner Arbeit und bat zum Abschied, ihr doch seine Frau und die leitenden Diplomaten der ostdeutschen Botschaft vorzustellen.

Der Tag hätte für den Diplomaten kaum besser verlaufen können. Am Abend folgten er mit seiner Frau einer Einladung in die Marx Memorial Library im Londoner Stadtteil Soho, als Gäste zum »Dinner to celebrate the birth of Karl Marx, 5th May 1818«.

Drei Tage zuvor, am 2. Mai 1989, waren die Bilder um die Welt gegangen, wie die ungarische Regierung den Eisernen Vorhang symbolisch durchtrennen ließ und die Grenze zu Österreich öffnete. Eine Weltordnung geriet ins Wanken, und wer dies, wie Joachim Mitdank, als Botschafter der DDR in London erlebte, dem erschienen die Ereignisse auf dem Festland irgendwie abwegig, weit weg vom gewohnten britischen Lebensfluss. »Wichtig war«, schrieb er 15 Jahre später in ›Berlin zwischen Ost und West – Erinnerungen eines Diplomaten‹, Berlin 2004, »dass die Mitarbeiter der Botschaft die Nerven behielten und ihre Würde als DDR-Diplomaten bewahrten.« Schon bei seiner Antrittsvisite konfrontierte ihn der damalige britische Außenminister, Sir Geoffrey Howe, sonst ein jegliche Schärfen und unnötige Zuspitzungen vermeidender Diplomat, mit der Frage: »Wie lange will die DDR noch an der Mauer in Berlin festhalten? Wie lange soll dort noch geschossen werden?« Am Vortag hatten die Medien erneut Zusammenstöße |283|und Schießereien in Nordirland gemeldet, die Zahl der Toten war inzwischen auf 3000 angestiegen. Joachim Mitdank vermied derartige Anspielungen. »Außerordentlich überrascht war ich allerdings, als ich während einer Veranstaltung am 9. Mai, dem sowjetischen Tag des Sieges, in der Handelsvertretung der UdSSR ebenfalls mit der Mauer-Frage konfrontiert wurde.«

Am Abend und in der Nacht des 9. November war die Pressekonferenz in Berlin und die Maueröffnung das wichtigste Thema im britischen Fernsehen. Kurz darauf unterbreitete die BBC Joachim Mitdank den Vorschlag, gemeinsam mit dem westdeutschen Botschafter Hermann von Richthofen vor laufender Kamera eine »Mauertorte« anzuschneiden. Die Redaktion bot ihm ein üppiges Honorar an. Mitdank lehnte ab. Ob er denn, fragte ihn der Redakteur, mit der Mauer einverstanden gewesen sei? Natürlich, entgegnete der Botschafter, sie war notwendig. Ob dies denn uneingeschränkt gelte, wollte der Redakteur wissen? »Nein«, entgegnete Joachim Mitdank, »die Schließung der Grenze der DDR zu Westberlin hätte einige Jahre eher erfolgen müssen!«

In der Zeit vom 22. bis 24. Januar 1990 besuchte der neue britische Außenminister Douglas Hurd die DDR. Er landete mit einem Mitarbeiterstab in Ostberlin, sprach mit Ministerpräsident Hans Modrow, mit Manfred Gerlach, dem Vorsitzenden des Staatsrates, und traf sich anschließend zu einer längeren Unterredung mit Außenhandelsminister Gerhard Beil. Joachim Mitdank begleitete Douglas Hurd auf seiner Reise, die ihn auch nach Leipzig führte. Bei einem Besuch der Karl-Marx-Universität, der Außenminister hatte ausdrücklich darum gebeten, führte er eine einstündige Diskussion mit den Studenten des Anglistik-Instituts, und war offenbar beeindruckt, dass die Studenten in bestem Englisch sehr wohl für grundlegende Veränderungen, ansonsten aber für das Fortbestehen der DDR als eigenständigem Staat plädierten. Am letzten Tag seines DDR-Besuchs, wieder in Ostberlin, bat der britische Außenminister Joachim Mitdank, ihn bei einem Spaziergang zum Brandenburger Tor zu begleiten. Seit vier Wochen stand es Fußgängern offen. »Wissen Sie«, sagte Hurd, »über das System von Jalta ist viel geschrieben und gesprochen worden. Feststehen dürfte, |284|dass wir unter diesem System 40 Jahre recht friedlich und auch glücklich gelebt haben. Jetzt müssen wir sehen, was kommt.«

Am 26. Januar 1990, zwei Tage nach dem DDR-Besuch ihres Außenministers, äußerte Margaret Thatcher in einem Interview mit dem ›Wall Street Journal‹, die Regierung Kohl solle »ihre engen nationalen Ziele den langfristigen Bedürfnissen Europas unterordnen«. Diese »weitsichtige Vision« müsse man der Bundesregierung »eintrichtern«. Die deutsche Einheit, fürchtete die britische Regierungschefin, »zerstört das wirtschaftliche Gleichgewicht der Europäischen Gemeinschaft, in der Westdeutschland schon heute dominiert.«

Den Ausgang der Volkskammerwahlen am 18. März 1990 erlebte Joachim Mitdank in London. Die Große Koalition zwischen dem konservativen, von der CDU angeführten Wahlbündnis und der SPD begann unter Lothar de Maizière sofort mit den Beitrittsvorbereitungen. Neuer Außenminister wurde der Pfarrer Markus Meckel, einer der Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR. Am 17. April 1990 zog Meckel in das Außenministerium am Ostberliner Marx-Engels-Platz ein, an seiner Seite Pfarrer Hans Misselwitz, dem der Posten des Parlamentarischen Staatssekretärs versprochen worden war. Zu seinem Amtsantritt äußerte Meckel, dass die Außenpolitik der neuen DDR unter seiner Leitung eigenständige Züge annehmen werde. Seine Amtszeit sollte gerade noch vier Monate dauern.

Für den DDR-Botschafter in London und Dublin ergab sich noch eine letzte Aufgabe. Markus Meckel wollte nach Irland reisen und hatte Joachim Mitdank mit den Vorbereitungen beauftragt. Zu diesem Zeitpunkt nahm Irland die Präsidentschaft in der Europäischen Gemeinschaft (EG) wahr. Den Regierungsvertretern in Dublin waren die eigenen Beitrittsverhandlungen zur EG noch sehr gegenwärtig, und so bestand eine gewisse Erwartungshaltung, wie sich die DDR ihren Anschluss an die europäische Staatengemeinschaft vorstellte. Außenminister Meckel überraschte seine Gesprächspartner mit der Offenbarung, dass die DDR einen Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes anstrebe. Ostdeutschland werde folglich ohne eigenen Antrag, als Teil der Bundesrepublik |285|in die europäische Staatengemeinschaft aufgenommen. Der irische Außenminister Gerard Collins machte keinen Hehl aus seiner Überraschung. »Warum«, sagte er zu Meckel, »wollen Sie denn alles so schnell machen?«

»Wir stehen unter dem Druck des Volkes«, antwortete Meckel.

»Junger Freund«, erwiderte Collins, »entschuldigen Sie, wenn ich Sie so anrede. Aber ich bin etwas älter als Sie. Hören Sie auf meinen Rat und unterscheiden Sie zwischen den verschiedenen Arten von Druck: Es gibt den Druck, den man selbst erzeugt – den man folglich fördern muss, und den Druck, der von anderen gegen uns ausgeübt wird. Dem muss man begegnen. Wissen Sie, mit Druck hatte ich mein ganzes Leben lang zu tun und kann Ihnen nur empfehlen: Nehmen Sie sich Zeit! Wenn Sie jetzt so von heute auf morgen in die Europäische Gemeinschaft gehen, ohne dass Sie sich besondere Erleichterungen ausbedingen – so wie wir das jahrelang betrieben haben und damit viele Sonderregelungen zu unserem Nutzen erreichen konnten – dann halten Sie das nicht lange durch.«

Außenminister Meckel entgegnete, dass nach der Währungsunion am 1. Juli alles anders werde. Dann habe die DDR mehr Zeit. Darauf konnte Gerard Collins nur noch wenig erwidern. Während des Essens wurde Joachim Mitdank von seinem Tischnachbarn, einem der Abteilungsleiter im irischen Außenministerium, auf die Unterredung angesprochen. »Sagen Sie, Herr Botschafter, hat Ihr Außenminister unseren Minister nicht richtig verstanden?«

Nur wenige Tage später kam das Abberufungsschreiben aus Ostberlin. Joachim Mitdank kehrte nach Berlin zurück und meldete sich beim Außenminister. »Die Tür zum Sekretariat hatte ich kaum geöffnet, als der neue Hausherr in Hausschuhen und offenem Hemd auf mich zugerannt kam, ›geht gleich los‹ rief und verschwand. Dieses unterhaltsame Spiel wiederholte sich einige Male.«

Nach dem Gespräch mit dem Außenminister lernte Joachim Mitdank auch dessen Bruder, Hans-Martin Meckel, kennen, der als Personalchef fungierte und ihm anbot, eine Tätigkeit im Zentralen |286|Bereitschaftsdienst des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) zu übernehmen oder zum Arbeitsamt zu gehen. »Ich entschied mich für den Bereitschaftsdienst. Das war der ruhigste Job, den ich jemals ausgeübt habe. Hier lernte ich einige von Meckels Beratern kennen, die vor und nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 aus Westberlin und der Bundesrepublik in die DDR eingeflogen worden waren. Nachdem Meckel seine Aufgabe erfüllt hatte, die Entlassung der Mitarbeiter des MfAA, verabschiedete er sich von der diplomatischen Bühne und wurde Abgeordneter des Bundestages.«

Abbau Ost
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