Mit leichtem Gepäck
Blicken wir noch einmal zurück! Heute wissen wir, dass im Osten Deutschlands von Anfang an keine realen Chancen für eine demokratische, rechtsstaatliche Entwicklung bestanden. Konsequenzen dieser Entwicklung im Osten waren gravierende Einschränkungen der persönlichen Freiheiten der Menschen, Rechtsverletzungen durch die Machthaber, wirtschaftliche Stagnation und Massenflucht. Mehr als drei Millionen Menschen haben diesen Teil Deutschlands enttäuscht, verbittert und geschunden verlassen.
Rolf Eggert, von 1990 bis 2001 Landtagsabgeordneter und Mitglied der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern, zuletzt als Wirtschaftsminister
In einer ihrer regelmäßig erscheinenden Konjunkturanalysen hatte die Industrie- und Handelskammer zu Schwerin einmal ausgerechnet, dass in Mecklenburg-Vorpommern zumindest 50 Jahre lang ein Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent erforderlich wäre, damit das nordöstliche Bundesland den Anschluss zum benachbarten Schleswig-Holstein schafft. Ein solches Wachstum wurde im Osten allenfalls Mitte der 90er Jahre erreicht, danach stagnierte die Entwicklung, und seit dem Jahr 2000 schrumpft das Bruttoinlandsprodukt. |136|»Ohne eine sprunghafte Aufstockung der industriellen Basis«, hieß es in dem IHK-Konjunkturbericht, »wird in Mecklenburg-Vorpommern kaum ein ausreichend stabiles Wirtschaftswachstum in den nächsten Jahren erreicht werden.«
Angesichts der Hoffnungslosigkeit hatten im ersten Nachwendejahrzehnt über drei Millionen Arbeitnehmer Ostdeutschland verlassen und sich in Westdeutschland oder im Ausland eine neue Existenz aufgebaut. Sie reisten mit leichtem Gepäck. Vom Verkauf des Volksvermögens hatten sie kaum profitiert, allenfalls die emotionale Bindung an ihre Heimat machte ihnen der Abschied schwer. In umgekehrter Richtung zogen zwischen 1989 und 2003 insgesamt 1,7 Million Altbundesbürger nach Ostdeutschland. Viele von ihnen hatten Volksvermögen erworben und gerieren sich heute als Arbeitgeber. Sie haben die am besten bezahlten Positionen in Wirtschaft und Verwaltung inne, es sind Staatsanwälte und Richter, Staatssekretäre und Kriminaloberräte, sie betreiben Anwaltskanzleien und Immobilienbüros, stellen das Führungspersonal von Versicherungen und Banken, leiten Hochschulen, Universitäten und Krankenhäuser, sie wohnen in den schönsten Häusern und besitzen Schlosshotels, Golfplätze und ausgedehnte Jagdreviere. Viele sind um Integration in die ostdeutsche Bevölkerung bemüht, was angesichts ihrer herausgehobenen Einkommenssituation nicht immer einfach scheint.
Die Spannungen sind allenthalben spürbar. Im Beitrittsgebiet haben sich Parallelgesellschaften herausgebildet, Westdeutsche bleiben meist unter sich. Eine derart subtile Kolonialisierung ist ohne Beispiel. Die heimische Bevölkerung hat auf ihrem angestammten Territorium die Staatsbürgerschaft gewechselt und mit der Preisgabe ihres Gemeinwesens auch ihre nationale Identität verloren. Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft, ohne eine eigene Geschichte gibt es keine gesellschaftlichen Werte und keinen Zusammenhalt. Jeder lebt für sich allein. Manchmal laufen sich die alten Bekannten über den Weg, aber es ist nicht mehr so wie früher, als es die DDR noch gab, als man noch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit spürte. Deshalb ist das Beitrittsgebiet »nur« eine Art Mezzogiorno und kein Nordirland geworden.