Die postindustrielle Konsumgesellschaft
Als in Ostdeutschland nach und nach die Lichter ausgingen, erstrahlte der Westen nur umso heller. Unmittelbar an den Ostblock grenzte die erfolgreichste Industrienation Europas. So wie die Vereinigten Staaten und Japan hatte die Bundesrepublik eine erstaunliche Nachkriegskarriere absolviert und zählte zum Trio der erlesenen Volkswirtschaften. Während die japanische Kultur dem alten Kontinent immer fremd geblieben war und die Vereinigten |39|Staaten Rassenschranken und soziale Gegensätze duldeten, wie sie in Westeuropa kaum auszuhalten wären, legte die Bundesrepublik um Wirtschaft und Sozialstaat eine rosarote Schleife und präsentierte sich als Musterschülerin der sozialen Marktwirtschaft. Wer auf der Strecke blieb oder dem Wettbewerb nicht gewachsen war, endete nicht auf der Straße, sondern konnte sich mit Arbeitslosengeld, zeitlich unbegrenzter Arbeitslosenhilfe, mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Umschulung, Weiterbildung oder der Aufnahme eines Studiums und gelegentlich ein wenig Schwarzarbeit gut über Wasser halten. Die Quelle dieses Reichtums, eine prosperierende, vornehmlich mittelständisch geprägte Wirtschaft, schien nahezu unerschöpflich. Die europäischen Nachbarn schauten mit Respekt auf den deutschen Wirtschaftsgiganten und verbargen ihren Neid hinter den üblichen Vorurteilen, denen das laute und unbescheidene Auftreten der Westdeutschen reichlich Nahrung bot. Noch in den 80er Jahren schien den Deutschen einfach alles zu gelingen. Junge Karrieristen aus aller Welt planten ein Praktikum in der Bundesrepublik und suchten hier, im Musterland der sozialen Marktwirtschaft, den Schlüssel zu Reichtum und Wohlstand. Viele waren fasziniert. Ein Blick auf die blank polierte bundesrepublikanische Oberfläche zauberte noch jedem ein Lächeln ins Gesicht.
Wer allerdings genauer hinschaute, dem erstarb das Lächeln. Während sich die Welt immer schneller veränderte und andere Staaten ihre Probleme anpackten, verharrte Deutschland in Selbstgefälligkeit. Der Leidensdruck war während der 80er Jahre in Westdeutschland noch nicht so groß wie in anderen Industrienationen, doch auch in der Bundesrepublik vollzogen sich Entwicklungen, die dringend korrigiert werden mussten. So tauchten im Bundestag bereits in den 70er Jahren erste Studien auf, die eindringlich vor der Weiterführung des »umlagefinanzierten« oder über Generationen finanzierten Sozialversicherungssystems warnten. Stark rückläufige Geburtenraten setzten nicht nur den oft bemühten, im rechtlichen Sinne nie wirklich geschlossenen Generationenvertrag außer Kraft, fortan wurde deutlich, dass die Bundesrepublik ihren Wohlstand zu Lasten künftiger Generationen |40|finanzierte. All jene, die mit ihren Sozialversicherungssteuern den Ruhestand und die medizinische Versorgung der alten Generation bezahlten, würden als Rentner selbst nicht mehr in den Genuss jener Leistungen kommen, die sie während ihrer Berufstätigkeit anderen ermöglichten. Der Generationenvertrag, daran bestand schon damals keinerlei Zweifel, ließ sich allenfalls noch über eine Generation fortführen, bis dem System nach einer Phase immer schneller steigender Sozialversicherungsbeiträge der Kollaps drohte. Trotz dieser beängstigenden Prognose blieben die Verantwortlichen über zwei Jahrzehnte untätig und erweiterten die umlagefinanzierten Sozialversicherungen, sozusagen als höchste Form des sozialpolitischen Autismus, sogar noch Mitte der 90er Jahre durch die Einführung der Pflegeversicherung.
Die Probleme mit steigenden Sozialversicherungssteuern und einem Umlagesystem, bei dem die Alten auf Kosten der Jungen leben, beschrieben längst nicht alle Krankheitssymptome der rein äußerlich immer noch vital wirkenden alten Bundesrepublik. Schon seit Anfang der 70er Jahre stieg die Arbeitslosigkeit in Westdeutschland kontinuierlich an. Zwar ließen sich am Verlauf der Arbeitslosenkurve die Konjunkturzyklen nachzeichnen, doch zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung hatte sich das Heer der Arbeitslosen über zwei Jahrzehnte ständig vergrößert. Bereits 1974 stieg die Arbeitslosenzahl auf über eine Million, verharrte sechs Jahre lang auf diesem Niveau, um sich dann binnen zweier Jahre auf zwei Millionen zu verdoppeln. Mitte der 80er Jahre näherte sich die Zahl der Arbeitslosen bedrohlich der Zweieinhalb-Millionen-Grenze. Die wirtschaftliche Stimmung in Westdeutschland Ende der 80er Jahre, Altbundesbürger werden sich erinnern, war überhaupt nicht gut. Neben leistungsstarken, global agierenden Konzernen und einem international wettbewerbsfähigen Mittelstand hatte sich in Westdeutschland eine träge und kostspielige Staatswirtschaft etabliert und auf dem Wege der Ämterpatronage feine Verästelungen in die Parteien und öffentlichen Verwaltungen ausgewachsen. Diese Staatswirtschaft trat erst seit der deutschen Einigung, im Zuge von Privatisierungsbestrebungen, nach und nach aus dem Schatten kommunaler Haushalte, sodass deren |41|Beschäftigtenzahl (außer Post und Bundesbahn mit allein 789 200 Beamten, öffentlichen Arbeitern und Angestellten) vom Statistischen Bundesamt nicht einmal gesondert erfasst wurde. Manfred Röber, Leiter des Studienganges »Public Management« an der Berliner Fachhochschule für Technik und Wirtschaft, schätzte in seiner 2001 veröffentlichten Studie ›Das Parteibuch – Schattenwirtschaft der besonderen Art?‹ den Anteil staatseigener Unternehmen an der Gesamtwirtschaft selbst heute noch, nach der Privatisierung von Post und Bahn und weiterer Staatsunternehmen, auf mindestens zwei Millionen Beschäftigte. Noch katastrophaler war, was sich die alte Bundesrepublik mit dem öffentlichen Dienst leistete. Im unmittelbaren westdeutschen Staatsdienst stiegen die Beschäftigtenzahlen zwischen 1950 und 1989 von 2,282 Millionen auf 4,865 Millionen Beamte, öffentliche Angestellte und Arbeiter. Allein zwischen 1950 und 1960 kamen 872 000 öffentliche Beschäftigte hinzu, davon – nach Gründung der Bundeswehr am 5. Mai 1955 – knapp 150 000 Berufssoldaten. Zwischen 1960 und 1970 schufen die öffentlichen Verwaltungen 721 000 neue Stellen und setzten im darauf folgenden Jahrzehnt weitere 782 000 Mitarbeiter auf die Gehaltslisten des Staates. Allein im Laufe des Jahres 1971 kam es in Westdeutschland zu 166 000 Neueinstellungen, ohne dass sich an den Aufgaben des Staates etwas geändert hätte.
Über die Jahrzehnte hatte sich das Verhältnis der produktiv Erwerbstätigen zur übrigen Bevölkerung ständig verschlechtert. Es wurde immer deutlicher, dass die gewerbliche Wirtschaft die Last eines überfrachteten Staatsüberbaus nicht mehr tragen konnte und sich unternehmerisches Engagement immer weniger lohnte. Der Staat deckte seine Bedürftigkeit über eine ungerechte, selbst vom Fachpersonal nicht mehr zu überschauende Steuergesetzgebung. Den ungebührlich hohen Aderlass für Unternehmen und Arbeitnehmer kaschierte der Fiskus durch eine willkürlich konstruierte, international unübliche Trennung von Steuern und gesetzlich verpflichtenden Zahlungen an die staatlichen Sozialkassen. Statt wie andere Nationen von Sozialversicherungssteuern zu sprechen, bevorzugte der deutsche Fiskus Begriffe wie Lohnnebenkosten |42|oder Sozialabgaben und erweckte den Eindruck, dass die Steuerlast im internationalen Vergleich gar nicht so hoch ausfallen würde. Der staatliche Finanzbedarf verschärfte sich durch ständige Einkommensverbesserungen der Staatsbeschäftigten. Spätestens seit den 70er Jahren übten öffentliche Beschäftigungsverhältnisse auf Arbeitnehmer einen größeren Reiz aus als Anstellungen in der gewerblichen Wirtschaft. Der Staat zahlte nicht nur ebenso hohe oder gar höhere Gehälter, die Staatsanstellung bot darüber hinaus ein weit höheres Maß an beruflicher Sicherheit, geregelte Arbeitszeiten, ein kaum noch überschaubares Netz von allen nur denkbaren Vergünstigungen und eine geradezu üppige Altersvorsorge. Hinter dem für das gesamte Bundesgebiet geltenden Flächentarifvertrag stand eine ungeheure Gewerkschaftsmacht. Tarifabschlüsse galten bundesweit für alle öffentlichen Bediensteten und noch weitere Millionen Arbeitnehmer, die nach Bundesangestelltentarif bezahlt wurden oder deren Einkommen sich am öffentlichen Tarif orientierte. Angesichts dieser Gewerkschaftsmacht und der Tatsache, dass Politiker – in ihrer Funktion als öffentliche Arbeitgeber – ihre Wahl auf die eine oder andere Art dem öffentlichen Dienst verdankten, wurden Tarifverhandlungen regelmäßig zu einer Farce. Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes erhöhten die Einkommen für ihre millionenstarke Klientel praktisch im Alleingang. Und ihre Forderungen wurden immer maßloser. Es gab Jahre, so beispielsweise 1974, da konnten die Gewerkschaften Einkommensverbesserungen von bis zu 18 Prozent durchsetzen.
Schon lange vor der deutschen Einigung gab der westdeutsche Staat Jahr für Jahr mehr Geld aus, als er seiner Bevölkerung an Steuern abverlangte. Trotz einer reichlich gefüllten Staatskasse genehmigten sich die Gebietskörperschaften über Kredite finanzierte Nachtragshaushalte oder planten eine milliardenschwere Neuverschuldung gleich in den regulären Haushalt ein. Beim öffentlichen Schuldenmachen ging der Bundestag mit schlechtem Beispiel voran, und so, gleichsam durch das Bonner Parlament ermutigt, ließen auch Landesparlamente, Stadtverordnetenversammlungen und Bürgerschaften alle Hemmungen fallen und lasteten, |43|indem sie einer immer höheren Neuverschuldung zustimmten, die Kosten für ihr Wohlergehen künftigen Generationen auf. Die offiziell ausgewiesenen, altbundesdeutschen Schuldenprobleme schienen bis Mitte der 70er Jahre noch einigermaßen beherrschbar. Im Jahre 1961 gab es, stellvertretend hier das Beispiel der Bundesfinanzen, eine letzte Tilgung von knapp einer Milliarde D-Mark. Seitdem konnte die Bundesrepublik nicht ein Jahr mit ihrem Geld haushalten. Zwischen 1975 und 1988 lag die Neuverschuldung Jahr für Jahr im zweistelligen Milliarden-Bereich und schwankte zwischen 22,2 Milliarden D-Mark 1977 und 38,2 Milliarden D-Mark 1981. Diese Schulden sammelten sich an, obwohl der Staat ständig die Steuern erhöhte und sich in nahezu jedem Jahr höhere Einnahmen sicherte. Im Jahr 1951 beispielsweise stiegen die Staatseinnahmen um 25,7 Prozent, im Folgejahr verbuchte der Fiskus gleich noch einmal ein Plus von 9,2 Prozent. In den 70er Jahren erfreute sich der Staat an einer schnellen Folge weiterer, geradezu üppiger Einkommenszuwächse: 1971 – 11,2 Prozent, 1972 – 9,2 Prozent, 1973 – 12,1 Prozent …, und immer wenn die Steigerung, wie beispielsweise 1975 mit nur 0,2 Prozent etwas mager ausfiel, beschloss der Bundestag eine besonders hohe Neuverschuldung. Selbst in den 80er Jahren, in denen bereits über zwei Millionen Arbeitslose auf ernste wirtschaftliche Probleme deuteten, blieb der Fiskus unersättlich und verschaffte sich fast jedes Jahr höhere Einnahmen. Lediglich 1988 gab es gegenüber dem Vorjahr ein Minus von 0,7 Prozent, wofür dann die Zuwächse 1989 mit 12,7 Prozent wieder besonders hoch ausfielen.
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen deuteten schon in den 70er Jahren, unübersehbar aber in den 80ern, auf den Niedergang der Bundesrepublik Deutschland. Fehlentwicklungen traten in allen Staaten auf, eine Besonderheit aber, durch die sich Westdeutschland von anderen westlichen Industrienationen unterschied, war der Mangel an kritischer Reflektion und eine ganz offen gelebte Selbstgefälligkeit. Es mangelte nicht nur an Einsicht und Veränderungsbereitschaft, jene die Politik beeinflussenden gesellschaftlichen Kräfte blockierten sich gegenseitig und hielten die Republik auf einem Kurs, der geradewegs zum Abgrund führte. |44|Die westdeutsche Gesellschaft war 1990 nicht in der Verfassung, dass sie die DDR übernehmen und den Weg zu Freiheit und Wohlstand weisen konnte. Im Rückblick scheint es geradezu tragisch, wie sich die alte Bundesrepublik an den Status quo klammerte, während die DDR-Bürger ihr bisheriges Leben grundsätzlich infrage stellten, allen Ballast abwarfen und bereit waren für etwas wirklich Neues. Zu dem Zeitpunkt, wo plötzlich alles möglich war, gaben die DDR-Bürger ihr eigenes Gemeinwesen verloren und überließen sich quasi willenlos und ohne rechtlichen Rückhalt einem kaum weniger erneuerungswürdigen Gesellschaftsmodell. Wussten die letzten Volkskammerabgeordneten, als sie mit deutlicher Mehrheit für die D-Mark-Umstellung und den Beitritt fünf neuer Bundesländer stimmten, worauf sie sich einließen? Bei einer realistischen Bestandsaufnahme der Schuldensituation, der westdeutschen Staatswirtschaft, des Beamtenstaates samt seiner wirtschaftsfeindlichen Fiskalpolitik und einer kritischen Betrachtung des fragwürdigen Zustandes der bundesdeutschen Demokratie hätten die Volkskammerabgeordneten dem sofortigen Beitritt unmöglich zu den im Einigungsvertrag ausgehandelten Bedingungen zustimmen können.