Parteienbündnis gegen die Wahrheit

Am 28. August 1994 stellte der Treuhand-Untersuchungsausschuss seine Arbeit ein. Nach einjähriger Tätigkeit, 54 Sitzungen, einer Verfahrensdauer von 277 Stunden und 9203 Seiten Protokollniederschriften folgten die Bundestagsabgeordneten mehrheitlich der Beschlussempfehlung und nahmen den »Bericht des Untersuchungsausschusses ›Treuhandanstalt‹ nach Art. 44 des Grundgesetzes zur Kenntnis«. Tatsächlich brachte der Abschlussbericht nichts Spektakuläres. Der sozialdemokratische Ausschussvorsitzende Otto Schily sagte, die Versäumnisse der Treuhandanstalt seien vor allem darauf zurückzuführen, dass die Bundesregierung keine gesamtwirtschaftliche Strategie zur Umstrukturierung |113|der ostdeutschen Wirtschaft entwickelt habe. Natürlich, erklärte Schily, könne die treuhänderische Arbeit viele Erfolge vorweisen, jedoch hätten die immensen Transferleistungen aus dem Westen die ehemaligen DDR-Betriebe nicht wirklich stark, sondern in unzulässigem Maße von den Banken abhängig gemacht. Auch zeige die Tatsache, dass von einmal mehr als 4 Millionen Arbeitsplätzen nur noch 1,3 Millionen übrig geblieben sind, dass die Privatisierungen regelrecht durchgepeitscht worden seien. Insgesamt aber bestätigte der Ausschussbericht das Bild, das die Treuhandanstalt von sich selbst gezeichnet hatte, das einer im Großen und Ganzen engagierten, auf dem Boden des Gesetzes stehenden Behörde, die an ihrer einmaligen historischen Aufgabe gewachsen sei und die, trotz einiger unvermeidlicher Fehler, in so kurzer Zeit Großes und Außergewöhnliches geleistet habe, nämlich die Transformation einer maroden Staatswirtschaft in ein marktwirtschaftliches Unternehmensgefüge. »Die Treuhandanstalt ist allen Fällen«, hieß es auf Seite 97 des Abschlussberichtes, »in denen der Verdacht auf eine strafbare Handlung vorlag, durch ihre eigenen Kontrollorgane nachgegangen und hat bei strafbaren Handlungen unverzüglich die zuständigen Staatsanwaltschaften eingeschaltet. Der Ausschuss stellte fest, dass die überwiegende Anzahl der 14 160 Privatisierungen reibungslos und erfolgreich verlaufen sind. Nach Auffassung von sachverständigen Zeugen waren die wenigen fehlgeschlagenen Privatisierungen angesichts der immensen Aufgabe nicht zu vermeiden.«

Untersuchen sollte der Ausschuss, »ob und in welchem Umfang durch Maßnahmen oder Unterlassungen der Bundesregierung und der Treuhandanstalt überlebensfähige Betriebe geschlossen und Arbeitsplätze vernichtet wurden, die erhalten werden konnten«. Ferner sollte der Ausschuss klären, ob das Bonus-System zur schnelleren Privatisierung zwangsläufig Fehlentscheidungen nach sich zog und »ob und in welchem Umfang der Bundesrepublik Deutschland durch vertragswidrige oder strafbare Handlungen im Zusammenhang mit der Privatisierung, Sanierung oder Abwicklung von Treuhandvermögen möglicherweise Schaden entstanden ist«. Auf keine dieser Fragen konnte der Ausschuss |114|eine wirklich zufriedenstellende Antwort finden, weil ihm die Einsicht in wichtige Akten verweigert wurde. Der Vorsitzende Otto Schily kritisierte, dass die Untersuchungen von der Bundesregierung »in jeder nur erdenklichen Hinsicht behindert« wurden. Schily sagte der ›Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‹ in einem Interview, dass entscheidende Akten als »vertraulich – nur für den Dienstgebrauch« eingestuft worden seien und deshalb bei den öffentlichen Anhörungen nicht zur Sprache kommen dürften und er im Übrigen nicht verstehen könne, warum die Bundesregierung »alle Hebel in Bewegung setzt, um den Einblick in bestimmte Unterlagen zu verweigern«. Die SPD-Bundestagsfraktion hatte sogar vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Bundesregierung und den Bundesfinanzminister geklagt, allerdings ohne Erfolg, die Privatisierungsakten öffentlicher Unternehmen blieben der Öffentlichkeit verschlossen, und das auf höchstrichterlichen Beschluss.

Schon im Vorfeld ließen die Bundesregierung und die Regierungen der ostdeutschen Bundesländer nichts unversucht, um den Treuhand-Untersuchungsausschuss zu verhindern. Noch am 17. September 1993, dreizehn Tage, bevor der Ausschuss zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentrat, wollten der Regierende Bürgermeister von Berlin und die Ministerpräsidenten der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – die Mehrzahl von ihnen Verwaltungsratsmitglieder in den Treuhandniederlassungen – das parlamentarische Verfahren stoppen. In einem gemeinsamen Brief an die SPD-Bundestagsfraktion warnten sie eindringlich, ein Untersuchungsausschuss »könne die Arbeit der Treuhandanstalt und damit den wirtschaftlichen Aufbau der neuen Bundesländer nachhaltig erschweren«. Die »Untersuchung von Privatisierungs- und Sanierungsentscheidungen der Treuhandanstalt ziehe unweigerlich die Befassung mit dem geschäftlichen Verhalten der Erwerber der entsprechenden Unternehmen nach sich«, und das möglicherweise zu einem Zeitpunkt, in dem die Umstrukturierung dieser Betriebe noch im Gange ist. »Es dürfte auf der Hand liegen«, hieß es in dem Brief, »dass solche Untersuchungen und die damit verbundenen |115|politischen Auseinandersetzungen auf nationale und vor allem internationale Investoren, auf deren Engagement wir weiterhin dringend angewiesen sind, alles andere als ermutigend wirken.«

Die SPD setzte den Ausschuss dennoch durch, um letztlich an Aussageverweigerungen und fehlender Akteneinsicht zu scheitern. Eine angemessene Beweisaufnahme sei oft nicht möglich gewesen, räumte Ausschussvorsitzender Otto Schily ein, da die Unions- und FDP-Mitglieder mit Verfahrensmanövern erreicht hätten, dass überhaupt nur etwa die Hälfte der 214 Zeugen vernommen werden konnten. Am Ende waren es die Berichte von Zeitzeugen, die den alltäglichen Wahnsinn noch einmal spürbar werden ließen. Besonders eindrucksvoll schilderte Hannelore Krüger-Knief ihre Erfahrungen mit dem Privatisierungsgeschäft. Die auf Insolvenzverfahren spezialisierte Rechtsanwältin mit Büros in Köln und Dresden war von der Treuhandanstalt mit mehreren Liquidationen beauftragt worden. »Ich habe in allen diesen Unternehmen Fälle gesehen«, sagte die Konkursverwalterin vor dem Treuhand-Untersuchungsausschuss, »dass alle, aber auch alle Spielregeln für eine regelgerechte Privatisierung verletzt worden sind. Ich muss zunächst alle meine Unternehmen kennen, muss mir Kenntnisse über die Branche, über den Markt, über die Möglichkeiten und damit auch über die möglichen Interessenten verschaffen. Dann muss ich, das ist wirklich das kleine Einmaleins, jemanden suchen, der über die ausreichende Sachkunde verfügt, der also branchenkundig ist. Ich kann ein Unternehmen, das Glas herstellt, nicht privatisieren an jemanden, der Burgen sammelt. Manche Dinge kann man durch Geld ersetzen, aber nicht alles. Ich habe nie gesehen, dass auch nur eine dieser Spielregeln eingehalten wurde.«

Am Ende stellte sich heraus, dass nicht einmal formale Kriterien der Vertragsabwicklung eingehalten wurden. Investitionsversprechen und Zusagen zum Erhalt von Arbeitsplätzen waren oft nicht verbindlich vereinbart worden. Nur etwa die Hälfte der angeblich 1,5 Millionen gesicherten Arbeitsplätze war auch tatsächlich an Vertragsstrafen gebunden. Vorkehrungen gegen das |116|Ausplündern verkaufter Treuhandunternehmen wurden nicht getroffen. Von den laut Treuhandanstalt zugesicherten Investitionen in Höhe von 200 Milliarden D-Mark waren bis Ende 1993 erst etwa zehn Milliarden, gerade fünf Prozent, erfolgt. Dabei hatte die Privatisierungsbehörde den Ausschussmitgliedern immer neue, einander widersprechende Zahlenangaben über Arbeitsplatz- und Investitionszusagen und die Verwendung öffentlicher Mittel geliefert. Zwar hatte der Ausschuss die Berechnungsfehler moniert und festgestellt, dass die Treuhandanstalt ihre Statistiken schönrechnete, die Wahrheit aber nie herausbekommen. Bis zum heutigen Tag blieb die Treuhandanstalt, eine Anstalt öffentlichen Rechts, ein außerhalb unserer Gesellschaft und ihrer Gesetze stehender monolithischer Block, in den niemand vorzudringen vermochte. Dieses unerklärliche Ding musste wohl aus einer fremden Zivilisation auf deutschen Boden gefallen sein, denn stammte es aus einem demokratischen Gemeinwesen, hätten sich dessen Bewohner ihre Staatsform nur eingebildet. Den Eigentümern der einstmals überwältigenden Vermögenswerte, den ehemaligen DDR-Bürgern, wurde die Einsicht in ihr eigenes Privatisierungsgeschäft verweigert. Ihnen wurde bis heute keine Rechenschaft abgelegt, was mit ihrem Volksvermögen geschehen war. Keine parlamentarische Kontrollinstanz konnte den Wahrheitsgehalt der Treuhandstatistiken überprüfen, kein Außenstehender gewann Einblick in das nach der »Kopftheorie« rekrutierte Privatisierungsnetzwerk, vermochte bis zu den Details der Privatisierungsgeschäfte vorzudringen. So lässt sich, dies ist nur ein Beispiel, bis heute nicht nachvollziehen, weshalb die Jenoptik GmbH in Jena, die im Eigentum des Landes Thüringen steht, mit Milliardenbeträgen gefördert wurde, während anderen Unternehmen selbst geringfügige Investitionen vorenthalten und die Geschäftsführungen von der Treuhandanstalt zu ständigem Personalabbau gezwungen wurden, immer wieder neue Sanierungskonzepte erarbeiten und dafür aus Westdeutschland anreisende Berater beschäftigen mussten.

Den Höhepunkt der Ausschussarbeit bildete die Vernehmung von Gert Haller, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und |117|zuständig für die Fach- und Rechtsaufsicht der Treuhandanstalt. Der Finanzexperte, heute Staatssekretär a. D., Vorsitzender des Vorstandes der Wüstenrot & Württembergischen AG in Stuttgart und zugleich Vorsitzender des Aufsichtsrates der Wüstenrot Bausparkasse AG, Ludwigsburg, wurde in der Vernehmung (Beweisprotokoll 42,309) nach der Zahl abgewickelter Treuhandunternehmen befragt. »Mir ist die Zahl jetzt nicht erinnerlich«, antwortete der leitende Beamte, »aber ich denke, es sind sicherlich über hundert … oder mehrere hundert«. Auf den Hinweis, dass binnen dreier Jahre knapp 3300 Unternehmen in die Liquidation oder Gesamtvollstreckung gegangen seien, erklärte der für die Aufsicht der Privatisierungsbehörde zuständige Staatssekretär Gert Haller, er nehme alles, was ihm hier an Informationen vorgelegt werde, zur Kenntnis.

Abbau Ost
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