|132|Clusterförderung
Allein das Land Nordrhein-Westfalen mit ähnlicher Einwohnerzahl hat fast zwanzigmal so viele Unternehmenssitze wie Ostdeutschland. Haben wir in Westdeutschland zwischen neun und zehn Industriearbeitsplätze auf 100 Einwohner, sind es in Ostdeutschland sechs. Im Osten sind zu wenige Unternehmenszentralen, in denen die großen Anteile an Wertschöpfung und die hohen Personalkosten entstehen. Rund 50 Prozent der Wertschöpfung des Ostens werden in verlängerten Werkbänken erarbeitet – von den Automobilwerken über die Chipfabriken bis zu Banken und Versicherungen. Schauen Sie sich eine 100 000-Einwohner-Stadt im Vergleich an: Im Osten gibt es mehr Dönerbuden und im Westen mehr Juweliere. Und das alles vor dem Hintergrund, dass 850 000 Arbeitsplätze im Osten – ein Fünftel aller ostdeutschen Arbeitsplätze – nur durch Transfers, also die rund 60 Milliarden Euro, die jährlich vom Westen in den Osten transferiert werden, erhalten werden.
Ulrich Blum, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, in einem Interview der ›Ostseezeitung‹ vom 5. November 2005
Das vorerst neueste Schlagwort im Verbalgerangel um die ostdeutsche Wirtschaftsmisere lautet Clusterförderung. Dahinter verbirgt sich ein rein theoretischer Ansatz, wie der dahindümpelnden ostdeutschen Wirtschaft zu mehr Dynamik verholfen und damit die Katastrophe für das wiedervereinigte Deutschland doch noch abgewendet werden könnte. Wirtschaftswissenschaftler beschreiben mit Cluster (Haufen) das Phänomen, dass ein Großteil der Weltproduktion bestimmter Waren an wenigen Standorten erzeugt wird. Fortschrittliche Hörgeräte beispielsweise kommen zum großen Teil aus der Umgebung von Kopenhagen. Keramische Fliesen stammen mit großer Wahrscheinlichkeit aus Sassuolo in Italien oder aus dem spanischen Castellón. Chirurgische Instrumente werden zu einem großen Teil im baden-württembergischen Tuttlingen und in Sialkot in Pakistan hergestellt. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht sind Cluster geografisch konzentrierte Ansammlungen von Unternehmen der gleichen und eng verwandter Branchen. Dabei bilden sich Unternehmensnetzwerke |133|und eine sich gegenseitig verstärkende Wirtschaftsdynamik heraus. Hierarchische Strukturen würden die Eigendynamik nur behindern, die Entstehung von Clustern ist sozusagen ein ungeordnet vor sich gehender Prozess. Zulieferbetriebe entstehen, Bildungs- und Forschungseinrichtungen siedeln sich an, Manager gründen eigene Unternehmen, und alle profitieren von der geografischen Nähe. Ein regionaler, auf engstem Raum stattfindender Wettbewerb, sichert das hohe, die Weltspitze verkörpernde Produktionsniveau. Dabei ist umstritten, ob die Bildung solcher Unternehmensnetzwerke durch staatliche Subventionen begünstigt und vorangetrieben werden kann oder sich die üblichen, von Behörden eingesetzten Steuerungsinstrumente nicht als hinderlich erweisen.
Was aber hat der sogenannte »Aufbau Ost«, bei dem es zunächst einmal um die Wiederbelebung einfachster regionaler Wirtschaftskreisläufe geht, mit Clusterförderung zu tun? Genau genommen gar nichts. Der Begriff erfährt vielmehr eine missbräuchliche, in Beamtenstuben erdachte Abwandlung und meint nicht länger das Phänomen geografisch konzentrierter Wettbewerbszentren, sondern beschreibt eine neue Strategie zur Verteilung staatlicher Fördergelder. Statt, wie die Beamten sagen, »in die Fläche zu subventionieren« oder Fördergelder nach dem »Gießkannenprinzip« zu verteilen, sollen in Ostdeutschland künftig nur noch »Wachstumskerne« oder »Cluster« gefördert werden, damit die knapper werdenden Subventionen überhaupt noch spürbare Effekte auslösen und nicht auf dem ostdeutschen Lande versickern. Bei diesen so genannten Wachstumskernen handelt es sich im Wesentlichen um ebenjene Regionen, in denen sich bereits die TLG Immobilien GmbH engagiert, nämlich den Großraum Berlin, den Großraum Halle-Leipzig und die Achse Dresden – Chemnitz – Erfurt – Eisenach. In Wahrheit verbirgt sich hinter dem Schlagwort das Eingeständnis, dass Ostdeutschland, abgesehen von einigen kleinen Wachstumskernen (Clustern), aufgegeben werden muss. Clusterförderung ist die gesellschaftliche Sanktion fortschreitender Abwanderung und der Verelendung weiter Landstriche und der dort noch ausharrenden Menschen. |134|Es gibt keine Hoffnung, der Osten ist, abgesehen von wenigen Wirtschaftsstandorten, abgeschrieben.
Die aktuelle Debatte zeigt ebenso wie schon die vorangegangenen eine große Ratlosigkeit. Niemand kennt das Rezept, das dem Osten verordnet werden müsste, damit das Anfang der 90er Jahre entstandene Siechtum überwunden werden kann. Nicht einmal Krieg, Demontage und Jahrzehnte sowjetischer Vorherrschaft konnten diesen Landstrich in der Mitte Europas wirtschaftlich derart schädigen wie eine Währungsumstellung und die stumpfsinnige Umsetzung einer Reihe weiterer, parlamentarisch abgesegneter Regierungsbeschlüsse. Die Zahl der Erwerbstätigen in Ostdeutschland sank innerhalb eines halben Jahres nach der D-Mark-Umstellung von 9,31 Millionen auf 8,05 Millionen, um rund 1,1 Millionen. Ein Jahr nach der Währungsumstellung, im Herbst 1991, hatte die Zahl der Erwerbstätigen bereits um 2,23 Millionen abgenommen. Die Industrieproduktion sank gegenüber 1989 binnen zweier Jahre auf 31 Prozent. Zum Vergleich: In Tschechien brach die Industrieproduktion bis 1993 auf 78 Prozent ein, in Ungarn auf 79 Prozent. Doch während es in den früheren Ostblockstaaten wieder aufwärtsgeht, ist die Zahl der Beschäftigten in den wenigen noch übrig gebliebenen Unternehmen ständig gesunken. Inzwischen arbeitet gerade noch ein Fünftel der früheren Beschäftigten in den ehemals Volkseigenen Betrieben, und der Arbeitsplatzabbau ist noch immer nicht zum Stillstand gekommen. Das ostdeutsche Wirtschaftswachstum lag zwischen 1990 und 2004 im Durchschnitt bei 0,8 Prozent. Dagegen konnten frühere Ostblockstaaten, einstmals wirtschaftlich nicht so leistungsfähig wie die DDR, eine dynamische Entwicklung vorweisen. Die durchschnittliche Wachstumsrate der Jahre 1998 bis 2004 betrug in Estland 4,9 Prozent, in Ungarn 3,8 Prozent, in der Slowakischen Republik 3,4 Prozent, in Polen 3,3 Prozent und in der Tschechischen Republik 2,0 Prozent.
Heute werden im wiedervereinigten Deutschland Milliardensummen für die Renaturierung jahrhundertealter Industriestandorte ausgegeben. Junge Menschen wandern ab, und wenn die alte Generation ihre Häuser verlässt, sind sie Vandalismus und Verfall |135|preisgegeben. Dieser Prozess lässt sich nicht mehr umkehren. In Mitteldeutschland, der Wiege des industriellen Fortschritts auf dem europäischen Kontinent, erobert sich die Natur ihr einstmals abgetrotzte Lebensräume zurück. Dies ist nicht das letzte Wort der Geschichte. Irgendwann werden Menschen, angetan von den geradezu idealen Bedingungen, die verlassene Kulturlandschaft neu entdecken, irgendwann kommt es zu einer wirtschaftlichen Renaissance. Die ostdeutschen Landstriche sind geradezu prädestiniert für die menschliche Besiedlung – das gemäßigte Klima, fruchtbare Böden, eine brauchbare Infrastruktur und eine lange zurückreichende unternehmerische Tradition. Ostdeutschland wird den Anschluss finden, nur eben nicht morgen, nicht im bevorstehenden Jahrzehnt, nicht in dieser Generation.