Wandel durch Annäherung
Wenn es richtig ist, und ich glaube, es ist richtig, dass die Zone dem sowjetischen Einflussbereich nicht entrissen werden kann, dann ergibt sich daraus, dass jede Politik zum direkten Sturz des Regimes drüben aussichtslos ist. Diese Folgerung ist rasend unbequem und geht gegen unser Gefühl, aber sie ist logisch. Sie bedeutet, dass Änderungen und Veränderungen nur ausgehend von dem zur Zeit dort herrschenden verhassten Regime erreichbar sind.
Egon Bahr (SPD), am 15. Juli 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing
Noch unmittelbar vor der Wende lieferte Hans-Otto Bräutigam, viele Jahre Leiter der ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR, ein eindrucksvolles Beispiel für den deutschlandpolitischen |231|Autismus der Bundesregierung. Hans-Otto Bräutigam hatte während seiner Amtszeit von 1982 bis 1988 in Ostberlin gelebt, verfügte über vielfältige Kontakte zur SED-Führung und hatte täglich Gelegenheit, sein Einschätzungsvermögen, sein Wissen über die tatsächlichen Zustände in der DDR mit der Realität in Einklang zu bringen. »Die DDR«, sagte Hans-Otto Bräutigam noch zu Beginn des Jahres 1989 in einem Interview, »hat einen Zustand relativer Stabilität erreicht.« Diesen Zustand, urteilte der Regierungsbeamte und spätere Justizminister des Landes Brandenburg, werde sie halten können. Die DDR sei kein Land für dramatische Änderungen und Wechsel.
Hans-Otto Bräutigam war kein Einzelfall, auch wenn er ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Sichtweise des Westens lieferte. Wie konnte dieser hochrangige Bundesbeamte, der so viele Jahre als Westdeutscher unter Ostdeutschen gelebt hatte, zu einer derart grandiosen Fehleinschätzung kommen? Die Antwort führt zurück ins Jahr 1963, an die Evangelische Akademie in Tutzing, wo Egon Bahr seine historische Rede unter dem Titel ›Annäherung durch Wandel‹ hielt. Bis zum Bau der Berliner Mauer hofften viele Ost- und Westdeutsche gleichermaßen, dass beide Teile Deutschlands in einem überschaubaren Zeitrahmen wieder zusammenwachsen könnten. Der Mauerbau setzte diesen Hoffnungen ein Ende. Im Westen Deutschlands entlud sich ein Gewitter der Empörung. Doch die DDR, die für viele zu Beginn der 60er Jahre bereits abgewirtschaftet hatte, konnte durch die brutale Abschottung vom Westen wieder einen relativ stabilen Zustand erreichen. Vor allem aber waren Tatsachen geschaffen worden, zu denen sich die Bundespolitik positionieren musste. Zu diesem Zeitpunkt wollte Egon Bahr wieder etwas Rationalität in die sehr emotional geführte Debatte bringen. »Die theoretische Vorstellung«, sagte der SPD-Politiker in der Evangelischen Akademie, »dass in Ostberlin ein Demokrat säße, macht sofort deutlich, dass die sowjetische These, die Wiedervereinigung sei allein Sache der Deutschen, die Herrschaft eines sowjetischen Vizekönigs in Ostberlin voraussetzt. Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjetunion zu schaffen. Sie sind nicht in Ostberlin |232|zu bekommen, nicht gegen die Sowjetunion, nicht ohne sie. Wer Vorstellungen entwickelt, die sich im Grunde darauf zurückführen lassen, dass die Wiedervereinigung mit Ostberlin zu erreichen ist, hängt Illusionen nach und sollte sich die Anwesenheit von 20 oder 22 gut ausgerüsteten sowjetischen Divisionen vergegenwärtigen.« Wer den Menschen in Ostdeutschland Erleichterungen bringen wollte, das war die Botschaft von Egon Bahr, müsse dem SED-Regime die Angst vor einer Revolution nehmen. »Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit zu nehmen, dass auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist.«
Tatsächlich dauerte es noch mehr als zwei Jahrzehnte, ehe die Sowjetunion die Ansprüche auf ihre ostdeutsche Provinz aufgab. In dieser Zeit hatte eine schleichende Gewöhnung eingesetzt, der deutsch-deutsche Alltag war bestimmt von der »Politik der kleinen Schritte«, von »Annäherung durch Wandel« und einer »Koalition der Vernunft«. Man begegnete sich mit staatsmännischer Ehrerbietung, man ging sich um den Bart, es gab Schmeicheleien der eitelsten Art und Tränen der Rührung, es gab wodkaduselige Nächte und einfühlsame »Stasi-Miezen«, man pflegte persönliche Kontakte, man sprach dieselbe Sprache und entdeckte Sympathien füreinander. Langsam und fast unmerklich festigte sich die Vorstellung von zwei dauerhaft existierenden deutschen Staaten. Rein menschlich lässt sich das nachvollziehen, doch die Bundesrepublik begriff sich nach wie vor noch als einziger deutscher, für alle Deutschen in Ost und West zuständiger Staat, der sich wegen der deutschen Teilung überhaupt nur eine vorläufige Verfassung, das Grundgesetz, gegeben hatte. Dieses Grundgesetz sollte bis zur »Vollendung der Einheit und Freiheit für das gesamte deutsche Volk« gelten und, wie es im Artikel 146 hieß, seine Gültigkeit an dem Tage verlieren, »an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.« Nach westdeutschem Selbstverständnis war die Bundesrepublik Deutschland nur eine vorübergehende, aus den widrigen Umständen der deutschen Teilung entsprungene Notlösung. Die |233|ständige Bereitschaft zur Wiedervereinigung war ein Grundpfeiler der westdeutschen Staatsgründung.
Das Grundgesetz hatte sich Ende der 80er Jahre längst überlebt, ohne dass die Bundesrepublik für sich eine neue Selbstbestimmung vorgenommen hatte. Vor allem zwei Sichtweisen bestimmten die Wahrnehmung. Die eine, von Jahr zu Jahr schwächer werdende und immer verbissener wirkende Seite meinte, die DDR werde schon bald zusammenbrechen, es sei nur eine Frage der Zeit, dann werde sich das Problem von allein erledigen. Die andere, ständig an Einfluss gewinnende Seite war überzeugt, die Verhältnisse in Ostdeutschland seien von Dauer, wenn auch auf einem bedauernswert niedrigen wirtschaftlichen Niveau. Die Anhänger beider Positionen hatten jeweils auf ihre Weise mit dem Thema Wiedervereinigung abgeschlossen. Keine Seite erkannte einen aktuellen Handlungsbedarf.