Der Präzedenzfall

Von der Entscheidung des Bundesgerichtshofs bis zur Verfassungsbeschwerde bleibt dem Beschwerdeführer eine Frist von vier Wochen. In dieser Zeit muss er seine Einwände formulieren und dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Diese vier Wochen über den Jahreswechsel 1993/94 werden Karl Albrecht Schachtschneider immer in Erinnerung bleiben. Es war Weihnachten, er hatte sich auf ein paar geruhsame Tage im Kreise der Familie gefreut, stattdessen brütete er über dem Beschwerdetext. »Meine Frau war nicht begeistert.« Doch ihn hatte der Ehrgeiz gepackt. »So eine Beschwerde muss sitzen, da darf einem kein Fehler unterlaufen. |56|Da soll es auch zur Verhandlung kommen. Als Professor will man nicht abgelehnt werden.« Karl Albrecht Schachtschneider, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Nürnberg-Erlangen, wähnte sich vor der größten Herausforderung seines Berufslebens. In letzter Konsequenz standen ostdeutsche Altschulden von rund 180 Milliarden D-Mark zur Verhandlung, dazu kamen noch Zinsforderungen von damals 40 bis 50 Milliarden D-Mark. Wohl kein Gericht der Welt hatte sich je zuvor mit Fragen der Rechtmäßigkeit eines solchen Kreditvolumens befassen müssen. Dieser Fall, über den in der Öffentlichkeit allenfalls zurückhaltend berichtet wurde und der heute beinahe in Vergessenheit geraten ist, sprengte jeden Rahmen. »Das ist der größte Skandal«, sagt Karl Albrecht Schachtschneider, »den ich kenne. Und er ist nie aufgeklärt worden.«

Aufmerksam war der Rechtsprofessor durch Friedrich Schmidt geworden. Die beiden Juristen kannten sich von einem früheren Rechtsstreit. Der Insolvenzverwalter mochte sich mit dem Urteil des Bundesgerichtshofes nicht abfinden und schilderte dem Berufskollegen den Fall der LPG Schlanstedt. Die DDR-Altschuldenfrage löste bei Karl Albrecht Schachtschneider eine derart große Empörung aus, dass er seine Argumentation über die Grundgesetzwidrigkeit sozialistischer Schulden zwei Jahre später – zu diesem Zeitpunkt hatte das Bundesverfassungsgericht noch immer keine Entscheidung getroffen – in Buchform veröffentlichte: ›Sozialistische Schulden nach der Revolution. Kritik der Altschuldenpolitik. Ein Beitrag zur Lehre von Recht und Unrecht‹, Verlagsbuchhandlung Duncker & Humblot, Berlin 1996. Die Beweisführung des Rechtsprofessors war so einfach wie bestechend. Zunächst zitierte er das Urteil des Bundesgerichtshofes, in dem es hieß: »Der planwirtschaftliche Kredit war damit im Wesentlichen durch eine Verteilungs-, Kontroll- und Stimulierungsfunktion geprägt. Für die Betriebe bestand ein Zwang zur Kreditaufnahme, da ihr Finanzbedarf durch den Plan vorgegeben war und die ihnen vom Staat belassenen Eigenmittel zur Erfüllung der Planziele nicht ausreichten.« Insofern erkannten die Richter durchaus an, dass die sozialistischen Schulden unter völlig anderen, geradezu |57|konträren Verhältnissen als marktwirtschaftliche Kreditverträge zustande gekommen waren und ihre Fortführung über den Untergang des sozialistischen Staates hinaus gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstieß. Doch der BGH zog sich mit einem Hinweis auf den deutsch-deutschen Einigungsvertrag aus der Affäre. »Die grundsätzliche Entscheidung«, hieß es im Urteil des Bundesgerichtshofes, »welchen Einfluss der Wechsel des Wirtschaftssystems auf die nach DDR-Recht begründeten Verbindlichkeiten haben soll, war Sache des Einigungsgesetzgebers.« An diesem Punkt setzte Schachtschneiders Argumentation an. Die Altschuldenregelung würde der deutschen Einigung grundsätzlich zuwiderlaufen, denn die Abschaffung der sozialistischen Planwirtschaft sei der Hauptgrund für den gesellschaftlichen Umbruch in der DDR und den Beitritt fünf neuer Bundesländer zum markwirtschaftlichen System der Bundesrepublik gewesen. Würden die sozialistischen Schulden fortgeführt, sei die gesamte Einigung eine Farce. »Die im Zuge des Beitritts der neuen Länder zur Bundesrepublik Deutschland verselbstständigten Unternehmen«, schrieb Karl Albrecht Schachtschneider, »einschließlich der LPGen, durften darauf vertrauen, dass die Revolution die bedrückenden Verhältnisse der sozialistischen Planwirtschaft endgültig beendet hat. ›Schuldverhältnisse‹ jedenfalls des ›sozialistischen Wirtschaftsrechts‹ existierten nach der Revolution nicht mehr. Wenn das Vertragsgesetz und die Kreditverordnung weiter maßgebend sind, muss das gesamte sozialistische Wirtschaftssystem in Geltung bleiben; denn diese Regelungen haben ausschließlich in einer sozialistischen Planwirtschaft einen möglichen Sinn. Sie sind ohne dieses Wirtschaftssystem unanwendbar, funktionslos. Die sogenannten Kredite müssten ihre sozialistische Funktion bewahren, die der Planung, Lenkung und Kontrolle. Das sozialistische Eigentum nach Art. 10 ›Verf. DDR‹ müsste beibehalten werden, weil das sozialistische Wirtschaftsrecht konsequent auf dieser systembestimmenden Entscheidung aufgebaut war.«

Nach der Aufhebung des Privateigentums und der Schaffung von Volkseigentum oder gesamtgesellschaftlichem Eigentum an Produktionsmitteln konnte es keine Kredite im eigentlichen Sinne |58|mehr geben. Unternehmerische Freiheit, also auch die Haftung für Fehlentscheidungen bis zum Risiko einer Vollstreckung, setzt privates Eigentum voraus. »Die planbestimmte Zwangsverschuldung in der DDR«, argumentierte Karl Albrecht Schachtschneider, »ließ aber den sozialistischen Wirtschaftseinheiten keine unternehmerische Entscheidung, sodass ein Essentiale bundesrechtlicher Kreditverbindlichkeit fehlte, nämlich die selbst verantwortete, eigentumshafte Eingehung der Schuld. Eigenmächtige Investitionen sollten im Interesse der Plandurchsetzung gerade unterbunden werden. Systembestimmend ist auch die Insolvenzhaftigkeit der Verbindlichkeiten nach bundesdeutschem Recht, welche das sozialistische Kreditwesen der DDR für sozialistisches Eigentum, wie auch das genossenschaftliche, nicht kannte. Die Betriebe in der DDR waren prinzipiell und weit überwiegend sozialistisches Eigentum und konnten aufgrund ihres quasi-staatlichen Charakters nicht wegen Insolvenz oder Überschuldung in Konkurs geraten. Derartiges wäre planwidrig und damit in der DDR systemwidrig gewesen. Jetzt aber sollen die Unternehmen so behandelt werden, als seien sie, genauer ihre Vorgänger, in der DDR (selbstverantwortliche) Unternehmer gewesen.«

Rechtlich betrachtet waren die sozialistischen Kreditnehmer noch nicht einmal die Eigentümer der Kredite, die sie nun zurückzahlen sollten. »Der Sache nach waren die sozialistischen Schulden Insichverbindlichkeiten, weil wegen ihrer Unselbstständigkeit Gläubiger und Schuldner im Volkseigentum wirtschaftliche Identität hatten. Im Rechtssinne gab es weder Gläubiger noch Schuldner und damit auch keine kreditären Vertragsverhältnisse. Der Systemwechsel hat somit den Altschulden auch aus rechtstheoretischem Grunde den Charakter von Schulden im Rechtssinne erst verschafft.«

Durch die deutsche Einigung waren die sozialistischen Schulden oder Insichverbindlichkeiten auf den Bund übergegangen, der diese Altkredite ebenso wenig eintreiben konnte wie seinerzeit die dem Ministerrat unterstehenden DDR-Staatsbanken. Erst der Verkauf der Staatsbanken an westdeutsche, privatrechtlich organisierte Geldhäuser ermöglichte den Zwangsübergang zu |59|marktwirtschaftlichen Kreditverhältnissen und die Zinsanpassung. »Die Verfassung« schrieb Karl Albrecht Schachtschneider zu dieser Ungeheuerlichkeit, »schützt den Bürger auch vor einem Gläubigerwechsel vom Staat auf eine private Bank, wenn der Charakter der Forderung dadurch geändert wird. Der Staat darf Forderungen nicht an Private übertragen, die er selbst aus politischen, ja sittlichen Gründen nicht eintreiben könnte. Es ist ein Unterschied, ob der Bund Forderungen gegen landwirtschaftliche Unternehmen durchsetzt und diese dadurch in den Ruin treibt oder ob das eine private Bank macht. Die Maßnahme, gewissermaßen die Privatisierung der staatlichen Forderungen, ist mit der Eigentumsgarantie nicht zu vereinbaren, die das Vermögen davor schützt, Forderungen ausgesetzt zu werden, deren Eintreibung der Schuldner nicht befürchten musste, weil der Gläubiger der Staat war, der Staat, der aus dem Sozialprinzip zur Schonung, jedenfalls zum Anstand, verpflichtet ist. Mit der Privatisierung der Forderungen versucht der Bund, sich seiner Grundrechtsverpflichtung zu entziehen.«

Am 8. April 1997, mehr als drei Jahre nach dem Abgabetermin für die Verfassungsbeschwerde, teilte das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung mit. Die sich durch 50 eng bedruckte Seiten ziehenden juristischen Spitzfindigkeiten ließen sich letztlich in einem Satz zusammenfassen. »Der Umstand«, hieß es dort, »dass der Einigungsgesetzgeber alle LPG ohne Rücksicht auf die unterschiedlichen Ursachen und die unterschiedliche Höhe der Altschulden, die nicht oder nicht nur von den LPG zu verantworten waren, an ihren jeweiligen Altschulden festgehalten hat, begründet keinen Verfassungsverstoß.«

Abbau Ost
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