Das Züricher Modell
Honecker unternahm noch einen letzten Versuch 1987 während seines Besuches in der Bundesrepublik. In seiner Rede in Neunkirchen, im Saarland, schlug er vor, die deutsch-deutsche Grenze so zu gestalten wie die Oder-Neiße-Grenze. Das war der Kerngedanke des Geheimprojektes »Länderspiel«, zu dem ich in Zürich Vorgespräche mit Thomas Gundelach, Sekretär des damaligen Bundestagspräsidenten Philip Jenninger, sowie mit dem Bankier Holger Bahl, einem Beauftragten des Bundeskanzleramtes, führte. Honecker bestand damals nicht einmal mehr auf den Geraer Forderungen wie die Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR.
Jürgen Nitz, zu DDR-Zeiten Mitarbeiter im Institut für Internationale Politik und Wirtschaft, in einem Interview der Tageszeitung ›Neues Deutschland‹ am 5. Oktober 1999
Nach dem Erscheinen des Enthüllungsbuches von Holger Bahl ›Als Banker zwischen Ost und West. Zürich als Drehscheibe für deutsch-deutsche Geschäfte‹, Zürich 2002, titelte die ›Berliner Zeitung‹ (BZ): »Honecker wollte die Wiedervereinigung«. Mit Holger Bahl meldete sich ein Bankier zu Wort, der den Osten zeitlebens |224|aus westdeutscher Perspektive betrachtet hatte, der als ideologisch unbelastet gelten musste und keineswegs unter Rechtfertigungszwang stand. Eher zufällig hatte ihn sein beruflicher Werdegang von Wuppertal nach Ostberlin und weiter nach Zürich geführt. Nach einer Lehre bei der Deutschen Bank in Wuppertal und ersten Erfahrungen im deutsch-deutschen Kreditgeschäft kam er am 16. September 1970 nach Zürich. Als junger Mann übernahm er die Bank für Kredit und Außenhandel, eine Tochtergesellschaft der Württembergischen Landesbank und der Landesbank Rheinland-Pfalz. In Zürich lernte er seine Frau kennen (»Seit Anfang Januar hatte ich eine schicke Schweizer Sekretärin, Frl. Yvette Zurbuchen …«), und auf seinen häufigen Reisen nach Leipzig und Ostberlin (»Das Essen war, zu meiner Überraschung, zwar deftig, aber außerordentlich schmackhaft.«) bekam er tiefe Einblicke in die ostdeutsche Wirtschaft und deren notorische Kreditbedürftigkeit. Er »gab mal einen aus oder ließ einen Hunderter in West springen« und befolgte eisern die Warnungen »vor diesen DDR-Mädels, welche die Chance auf etwas Westgeld vor Augen hatten und mit den Professionellen aus dem Westen absolut nichts gemein hatten. Aber sie arbeiteten alle für das Ministerium für Staatssicherheit.« Und dann gab es da diese Treffen im schmutzigen Hinterhof des Interzonenhandels, wo die einen, in schönster ostwestdeutscher Kumpanei, mit Zollfreiheit und Mehrwertsteuervergünstigung an den Finanzämtern vorbei traumhafte Gewinne erzielten, und die anderen Verrechungseinheiten in richtiges Westgeld verwandelten. Und hinterher wurde mit reichlich Wodka angestoßen. Nicht immer verliefen die deutsch-deutschen Geschäfte harmonisch. Bei den Gesprächen »nahm plötzlich die Lautstärke zu, es wurde gebrüllt«. Und dann, wenn sich die Ost-West-Front zu verhärten schien, erhoben sich die Streitenden abrupt und gingen in einen Nebenraum. Lange Zeit passierte nichts. Und dann, »als wäre nichts gewesen, kamen alle zurück, und es wurden auf einen Wink von Hans kalter Wodka und Kartoffelsuppe mit Halberstädter Würstchen serviert«. Im innerdeutschen Handel war vieles denkbar. Über die DDR konnten zollfrei und mit Mehrwertsteuerersparnis Waren nach Westdeutschland gelangen, |225|die gar nicht in der DDR hergestellt wurden. Andererseits konnten Waren, welche die DDR aus Westdeutschland bezog, wiederum in die BRD oder andere westeuropäische Länder exportiert werden. Auf diesem ungesetzlichen Wege ließen sich, bei einem freien Devisenkurs von einer Westmark zu vier Ostmark, beim Wiederverkauf von Waren im Wert von einer Million drei Millionen Westmark Gewinn verbuchen. »Diese Strecke war die Spezialität der westdeutschen Parteifirmen.« Der letzte große innerdeutsche Tauschhandel lief noch nach der deutschen Einigung mit dem früheren DDR-Unterhändler und Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski: Verschwiegenheit gegen einen Lebensabend in Freiheit und Wohlstand.
Holger Bahl selbst machte über die Tochtergesellschaft in Zürich für seine Landesbanken in Stuttgart und Mainz mit DDR-Banken blendende Provisionsgeschäfte. Das Ganze lief sehr diskret ab. Zumindest anfangs wollte niemand, »dass westdeutsche und Westberliner Aktionäre über die Einzelheiten unterrichtet werden«. Es waren goldene Jahre, und es begann schon weit früher, als dies gemeinhin angenommen wird. »Mitte der siebziger Jahre boomte der Kreditmarkt, und meine Konsortialbanken waren hungrig auf Neugeschäfte, vor allem mit der DDR, die zunehmend nach der Sowjetunion als bestes Ostblockrisiko galt.« Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre »gab es bei den Banken einen Run nach Ostberlin und Leipzig. Die ›Interhotels‹ platzten während der Messe aus allen Nähten, 1981 wurde in Leipzig das Hotel Merkur eröffnet, ein absolutes Luxushotel. In der Halle 16, einem der Zentralgebäude auf dem Messegelände, hatten weit über 50 westliche Banken Stände gemietet, es gab eine ganze ›Bankenstraße‹. Wie verklärten sich die Gesichter, wenn der Minister für Außenhandel der DDR, Dr. Gerhard Beil, unter laufenden Kameras des DDR-Fernsehens plötzlich den Saal betrat. Man erstarb fast vor Ehrfurcht, wenn sich Dr. Schalck, was selten vorkam, auf einem Bankempfang für Sekunden blicken ließ. Und die Reden, die Trinksprüche. Was gab es Schöneres und Besseres als die liebe DDR und ihre geschätzten Würdenträger.«
Die Stimmung trübte sich erst, als Anfang der 80er Jahre Polen |226|seine Kredite nicht mehr bedienen konnte. Jetzt sollte nach den Vorstellungen des Westens die sogenannte Regenschirmtheorie zur Anwendung kommen. Die Sowjetunion, so die Überzeugung, würde ihre Ostblocksatelliten nicht im Regen stehen lassen, den Schirm aufspannen und die westlichen Banken mit den enormen russischen Goldreserven beruhigen. Aber die verweichlichten Westbanker, die bei den Saufgelagen nie bis zum Schluss durchhielten, hatten keine Ahnung von den Tiefen der russischen Seele. Natürlich spannte die Sowjetunion keinen Schirm über Polen auf. Die Kredite mit Polen mussten abgeschrieben werden, und das brachte den gesamten Ostblock in Verruf. Das Interesse an Kreditgeschäften mit den osteuropäischen Staaten ging gegen null. Der DDR blieben nur noch wenige Monate, dann drohte ein ernsthaftes Liquiditätsproblem, dann konnte sie, genau wie Polen, ihre Kredite nicht mehr bedienen. »Fest steht«, schrieb Holger Bahl, »dass Bonn über die verheerende Liquiditätslage der DDR Bescheid wusste, zu groß war das Netz von BND-Agenten in der DDR-Wirtschaft, nicht zuletzt bei Schalck und der Deutschen Außenhandelsbank AG der DDR (DABA), als dass dies verborgen geblieben wäre.« In dieser Situation hatte Holger Bahl gemeinsam mit DDR-Unterhändlern das »Züricher Modell« entworfen, in seinem Kern die Gründung einer deutsch-deutschen Bank in Zürich, sodass die DDR sozusagen über die westdeutsche Bürgschaft Zugang zu den internationalen Devisenmärkten erhalten hätte. Das Geschäft sollte an einen Milliardenkredit für die DDR gekoppelt werden, und, damit sich das Ganze im Bundestag verkaufen ließ, mit der Zutat »Reiseerleichterungen gegen Kreditvergabe« offeriert werden. Die Verhandlungen waren schon recht weit fortgeschritten, und auch die sowjetischen Genossen hatten bereits zugestimmt, da betrat der bayerische CSU-Politiker Franz Josef Strauß die Bühne, demonstrierte eine beeindruckende 180-Grad-Wende in seiner Ostpolitik und machte der DDR ein eigenes Angebot. »Der DDR«, resümierte Holger Bahl, »lagen somit zwei bundesdeutsche Kreditofferten auf dem Tisch, und sie agierte professionell und, im Gegensatz zu Bonn, unter Koordination der Führung. Honecker beschloss im engeren Kreis mit Mielke und Mittag, zunächst zweigleisig |227|zu fahren, bis feststehe, ob Strauß sich mit seinem Milliardenkredit bei Kohl wirklich durchsetzen könne.«
Strauß setzte sich durch. Und schon wenig später bekam die DDR noch einen zweiten Kredit. Doch das Züricher Modell, eine deutsch-deutsche Bank als erste Stufe einer wirtschaftlichen Annäherung und einer Konföderation, hatte sich damit erledigt. Die DDR war jetzt wieder liquide, hatte aber keines ihrer wirtschaftlichen Probleme gelöst. Und noch etwas war geschehen: Mit den beiden Milliardenkrediten und den Bürgschaften der Bundesregierung hatte Westdeutschland der DDR einen Persilschein ausgestellt. Wenn die Bundesrepublik und ihre öffentlich-rechtlichen Geldhäuser das Kreditrisiko für kalkulierbar hielten, dann konnten auch andere Banken wieder in das Geschäft einsteigen. »Noch 1987 und ’88 standen alle großen Banken bei der DDR Schlange, um ihre Kredite loszuwerden. Die Leipziger Messen glichen Wallfahrten bundesdeutscher Politiker jeder Couleur, die, einer ungeschriebenen Kleiderordnung folgend, erst die Messe, dann Honecker in Ostberlin besuchten; die Ministerpräsidenten der Bundesländer gaben sich bei Honecker die Klinke in die Hand.«
In dieser Atmosphäre wurde Ende 1985 ein letztes Projekt deutsch-deutscher Annäherung geboren. »Grundlagen des ›Länderspiels‹, wie das Projekt der Konföderation unter uns genannt wurde, war die Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR einerseits, der ungehinderte, freie Reiseverkehr für alle DDR-Bürger in die Bundesrepublik andererseits, begleitet von einem umfangreichen Wirtschaftsprogramm von Bonn und Ostberlin. Der Kreis der Eingeweihten auf beiden Seiten war klein.« Holger Bahl sah in dem Projekt »eine frühzeitige Chance zur schrittweisen Öffnung der Mauer und einer schon in 1986/87 möglichen deutschen Konföderation«, und wunderte sich, »dass die damals beteiligten westdeutschen Politiker heute auffallend zu dem Thema schweigen, kaum jemand sagt etwas zu den Versäumnissen«. Doch für das Projekt »Länderspiel« hätte es einer Grundgesetzänderung bedurft. Eine Zweidrittelmehrheit für eine zweite deutsche Staatsbürgerschaft war aber im Bundestag Mitte der 80er Jahre völlig undenkbar. Deutsche Teilung und Wirtschaftsaufschwung |228|hatten die Altbundesbürger durch ihre besten Jahre begleitet, sie waren die zwei Seiten des westdeutschen Goldstücks. Das wollte niemand gegen eine so unsichere Währung wie eine deutsche Konföderation eintauschen. An etwas so Kompliziertem, politisch nur schwer Vermittelbarem wie einer deutschen Konföderation hatte die Bundesregierung kein Interesse.