Staat und Revolution
Freilich muss man wissen: Der ›Sputnik‹ ist kein Organ der KPdSU. Die von der Redaktion aus allen möglichen und unmöglichen Beiträgen herausgepickten »Geschichtsdarstellungen« stehen im krassen Widerspruch zu dem, was Michail Gorbatschow anlässlich des 70. Jahrestages der Oktoberrevolution über die Geschichte der KPdSU und der Sowjetunion sagte. Sie stehen, für uns, vor allem in Widerspruch zur deutsch-sowjetischen Freundschaft, die hierzulande Verfassungsgrundsatz, Staatspolitik und Herzenssache von Millionen ist.
SED-Tageszeitung ›Neues Deutschland‹, 25. November 1988, zum Verbot der sowjetischen Monatszeitschrift ›Sputnik‹
Aus Sicht der Menschen in der DDR kündigten sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in allen Ostblockstaaten Veränderungen an, nur im eigenen Land bewegte sich nichts. Im benachbarten Polen hatte sich mit der Solidarność eine starke und unabhängige Gewerkschaftsbewegung etabliert, die nach dem offiziell verhängten Verbot am 8. Oktober 1982 in den Untergrund ging und am Ende doch die Regierungsvertreter zu Verhandlungen an den Runden Tisch zwang – unvorstellbar in der DDR. In Ungarn war der Umgestaltungsprozess Anfang 1989 bereits so weit vorangekommen, dass auf Regierungsebene ganz offen eine enge Zusammenarbeit mit den westlichen Industrienationen angestrebt wurde. Am 2. Mai 1989 begannen ungarische Soldaten an der Grenze zu Österreich mit dem Abbau der elektronischen Sicherungsanlagen und des Stacheldrahtverhaus. Zu diesem Zeitpunkt war eine |241|Lockerung des innerdeutschen Grenzregimes überhaupt undenkbar. Noch am 5. Februar 1989, gegen 21.00 Uhr, gerieten Chris Gueffroy und Christian Gaudian bei der Flucht vom Ost-Berliner Stadtbezirk Treptow in den Westberliner Stadtbezirk Neukölln ins Maschinengewehrfeuer zweier Postenpaare. Die beiden Männer, 20 und 21 Jahre alt, hatten die Hinterlandmauer schon überwunden, kamen aber beim Übersteigen des Signalzauns ins Stolpern und lösten Alarm aus. Chris Gueffroy wurde schwer getroffen und starb innerhalb weniger Minuten. Christian Gaudian, von einem Geschoss am Fuß verletzt, wurde am 24. Mai 1989, wegen »versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall«, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Bei der Gerichtsverhandlung stellte sich heraus, dass die beiden von einem Freund, der gerade bei den Grenztruppen in Thüringen seinen Wehrdienst leistete, gehört hatten, der Schießbefehl sei ausgesetzt.
Anfang 1987 ging die SED-Führung spürbar auf Distanz zur Reformpolitik Michail Gorbatschows. Nach dem Besuch des sowjetischen Außenministers Eduard A. Schewardnadse im Februar 1987 in Ostberlin, bei dem es auch um eine Neubestimmung des Verhältnisses von DDR und Sowjetunion ging, erteilte die SED-Führung jeglichen Reformen eine unmissverständliche Absage. Die ökonomische und soziale Situation in der DDR, hieß es nun offiziell, machten Reformen nach dem von Gorbatschow vorgeschlagenen Muster nicht erforderlich. Die Bevölkerung, die bislang immer angenommen hatte, der eigene Staat müsse sich dem russischen Diktat beugen, war fassungslos. Jetzt klammerte sich die DDR-Regierung an einen Standpunkt, an dem nicht einmal mehr die sowjetische Parteiführung festhalten mochte. Der letzte Funke Hoffnung verglühte am 19. November 1988 mit dem Verbot des ›Sputnik‹. Die sowjetische, in deutscher Sprache erscheinende Monatszeitschrift ähnelte in Format und Inhalt dem ›Reader’s Digest‹. Die Oktoberausgabe 1988 wurde nur teilweise ausgeliefert. Sie enthielt mehrere kritische Artikel, die sich mit Stalin auseinandersetzten und den sowjetischen Diktator mit Hitler verglichen. In der Folge wurde die Zeitschrift von der Postzeitungsliste gestrichen, was praktisch einem Verbot gleichkam.
|242|Die DDR erschien ihrer Bevölkerung als der hoffnungsloseste Fall unter allen Ostblockstaaten. Immer mehr Menschen hielten das nicht mehr aus. Wer die ständige Bevormundung nicht mehr ertragen konnte, wer seinen Lebensweg und sein persönliches Glück nicht länger ideologischen Zwängen unterordnen mochte und immer wieder an Grenzen stieß, entschied sich für die Ausreise. Im Wendejahr 1989 erreichte die Ausreisewelle ihren Höhepunkt. Allein im Sommer 1989 hatten 120 000 DDR-Bürger Übersiedlungsanträge gestellt. In der ersten Hälfte des Wendejahres konnten bereits 46 000 Menschen die DDR auf legalem Wege verlassen. Weiteren Zehntausenden ging das Behördenverfahren nicht schnell genug, sie flohen über die ungarische Grenze nach Österreich, besetzten Botschaften oder kehrten von offiziell genehmigten Besuchsreisen in die Bundesrepublik nicht mehr zurück. Im Ministerium für Staatssicherheit war eigens eine »Zentrale Koordinierungsgruppe« geschaffen worden, die sich mit dem Problem der »Verbleiber« auseinandersetzte. Diese Koordinierungsgruppe registrierte zwischen 1976 und 1985 jedes Jahr rund 320 »Verbleiber«, wobei Rentner nicht mitgezählt wurden. Beginnend mit dem sowjetischen Entspannungskurs gingen die Zahlen stetig nach oben. 1986 kehrten 1299 Ost-West-Reisende nicht in die DDR zurück, 1987 waren es 3 235, 1988 stieg die Zahl auf 5 898, und 1989, bis Ende Oktober, kehrten 8 746 Menschen trotz familiärer Bindungen der DDR den Rücken zu und blieben in Westdeutschland. Wenn man sich klarmacht, dass zurückgebliebene Familienangehörige mit behördlichen Restriktionen rechnen mussten und die Betroffenen nicht sicher sein konnten, ob sie sich in ihrem Leben jemals wiedersehen, wird noch einmal spürbar, wie hoffnungslos und frustrierend vielen das Leben in der DDR erschienen war. Immer mehr Menschen riskierten nahezu alles, um der Enge zu entkommen. Selbst in den aufgeregten Oktobertagen des Jahres 1989, sogar noch bis zum Mauerfall in den Nachtstunden des 9. Novembers, dachten die Menschen, die Hals über Kopf davonliefen, sie würden die Orte, an denen sie aufgewachsen waren, wo sie zur Schule gingen und ihre erste Liebe entdeckten, wo ihre Eltern, Verwandten und Freunde lebten, niemals wiedersehen.