|177|Kämpfen um jedes Mitglied
Seit Anfang der 90er Jahre laufen den Parteien die Mitglieder davon. Diese Entwicklung wird von Oskar Niedermayer, Parteienforscher an der Freien Universität Berlin, seit Jahren verfolgt und dokumentiert. Am stärksten hat es die FDP getroffen. Zwischen 1991 und 2004 haben die Freien Demokraten über die Hälfte ihrer zahlenden Anhängerschaft verloren und zählten Ende 2004 noch 64 000 Mitglieder. In der SPD hat sich die Mitgliederzahl in diesem Zeitraum um ein Drittel verringert, das ist ein Verlust von 314 000 Genossen. Bei der CDU hat sich der Mitgliederschwund auf gut ein Fünftel summiert, das ist ein Minus von 172 000 Parteimitgliedern. Doch während die Parteien in den Grenzen der alten Bundesrepublik von einem vergleichsweise großen Mitgliederstamm zehren können, trifft die bundesweite Unlust an Parteimitgliedschaften den Osten weit härter als die vergleichsweise immer noch gut aufgestellten westdeutschen Landesverbände. Das dem Beitrittsgebiet aufgepfropfte, westdeutsche Parteiensystem ist von den ehemaligen DDR-Bürgern nie richtig angenommen worden, und auch die nachwachsende Generation zeigt nur geringes Interesse an dem altbundesdeutschen Parteienapparat. Die neuen Bundesländer werden von Parteien regiert, die nur wenig Rückhalt in der Bevölkerung haben.
Noch zu DDR-Zeiten ging der westdeutsche Parteienstaat im Osten hausieren. Es war ein unwürdiges Schauspiel, das die westdeutschen Parteien-Darsteller dem ostdeutschen Publikum boten. Die Dramaturgie war nur allzu durchschaubar. Aufrichtigkeit gehörte nicht zum Repertoire. Dafür bewiesen CDU und FDP großes Improvisationstalent bei gemeinsamen Auftritten mit den DDR-Blockparteien. Die Konservativen holten die Ost-CDU und die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) in ihre Vorstellung, die FDP bediente sich am Mitgliederfundus von LDPD (Liberaldemokratische Partei Deutschlands) und NDPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands). So hatte die gesamtdeutsche CDU 1991 in den fünf neuen Ländern knapp 110 000 Mitglieder. Doch Ende 2004 war der alte Mitgliederbestand im Beitrittsgebiet |178|auf weniger als die Hälfte abgeschmolzen. Noch härter hat es die FDP getroffen, die in den neuen Ländern Anfang der 90er noch knapp 69 000 Mitglieder zählte – mehr als heute im gesamten Bundesgebiet. Davon waren 13 Jahre später im Osten nicht einmal mehr 10 000 übrig.
Die SPD, die sich zu keinem Schulterschluss mit der SED und auch nicht mit deren Nachfolgepartei, der PDS, durchringen konnte, wilderte Anfang der 90er Jahre ein bisschen unter den Bürgerrechtlern und brachte es 1991 in den neuen Ländern auf gut 27 000 Mitglieder. Den öffentlichen Verlautbarungen zufolge sollte sich die SPD in der Noch-DDR neu gegründet haben. Die sozusagen überraschende Namensgleichheit und gleiche Parteiprogramme legten dann, nach dem Beitritt der fünf neuen Bundesländer, die Fusion der ostdeutschen Neugründung mit der westdeutschen Altpartei nahe. Bis etwa Mitte der 90er Jahre waren die Mitgliederzahlen in den meisten ostdeutschen SPD-Landesverbänden noch leicht gestiegen, doch seitdem geht es nach unten. Im Jahre 2004 gab es in Ostdeutschland nur noch knapp 25 000 SPD-Mitglieder, wobei Oskar Niedermayer auf »Datenerfassungsprobleme in ostdeutschen Landesverbänden« hinweist. Die grüne Wohlstandspartei hat in den neuen Ländern keine hörbare Stimme und ringt bei ostdeutschlandweit gerade noch 3500 Mitgliedern (2004) mit der Bedeutungslosigkeit.
Die PDS hat immer eine Sonderrolle gespielt. Nach der Umbenennung von Sozialistischer Einheitspartei Deutschlands (SED) in Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) im Februar 1990 ist mit Blick auf den Zusammenschluss mit der westdeutsch geprägten Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) im Juli 2005 ein weiterer Namenswechsel erfolgt. Vom Sommer 2005 bis zum endgültigen Zusammenschluss mit der WASG am 16. Juni 2007 war der korrekte Name Die Linkspartei. PDS, alternativ auch Die Linke. PDS. Obwohl die PDS die größten Mitgliederverluste verkraften musste, blieb sie im neuen Bundesgebiet immer die mitgliederstärkste Partei. Beim Zusammenschluss mit der WASG brachte sie über 60 000 Mitglieder in die neue Partei, von der Wahlalternative wechselten 11 800 Mitglieder in Die Linke.
|179|Das Institut für Politikwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ist der Frage nachgegangen, ob die ostdeutschen Landesverbände möglicherweise anders sind als westdeutsche und eigene Impulse setzen. ›Das Parteiensystem in Sachsen-Anhalt‹, lautet der Titel der öffentlich finanzierten Forschungsarbeit, die im März 1999 der Öffentlichkeit präsentiert wurde. »Die Ausgangsfrage«, heißt es in der Studie, »lautete: Sind ostdeutsche Parteien anders? Oder sind sie lediglich ein regionales Abbild der – mit Ausnahme der PDS – westdeutsch geprägten Bundesparteien?« Dazu haben die Forscher die Parteien in alte, wenn man so möchte, aus DDR-Zeiten überkommene Parteimitglieder, und in neue, nach der Vereinigung rekrutierte Parteimitglieder unterteilt. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass »die Trennungslinie zwischen alten und neuen Parteigenerationen weniger deutlich ist, als wir erwartet haben«. Das »vorläufige Fazit« lautet, »Ostdeutschlands Parteien, für welche pars pro toto die Parteimitglieder Sachsen-Anhalts stehen, sind nicht völlig, aber doch ein wenig anders«. Dieses marginale Anderssein steht vor allem mit den niedrigen Mitgliederzahlen und entsprechend kleinen Ortsgruppen in Zusammenhang. Immer noch prägen die Altmitglieder das Bild der Parteien, es gibt kaum Zulauf. Die Bundesparteien, allen voran die SPD, haben große Schwierigkeiten, aus ihren Reihen genügend ostdeutschen Nachwuchs zu rekrutieren, damit alle Parteiämter und Wahlmandate mit glaubwürdigen und präsentablen Persönlichkeiten besetzt werden können. Dabei sind es »vornehmlich die neuen Parteimitglieder, die mit dem Parteibeitritt politische Verantwortung übernehmen, d. h. ein Parteiamt oder ein öffentliches Wahlmandat antreten wollen«.
Nicht erfasst wurde in der Studie, in welchem Maße inzwischen aus Westdeutschland zugezogene Mitglieder die Arbeit in den ostdeutschen Landesverbänden und Ortsgruppen prägen. In den ostdeutschen Ländern und Kommunen lässt sich beobachten, wie Mitglieder mit westdeutscher Sozialisation in Parteiämter drängen und Wahlmandate anstreben. Es sind zum großen Teil diese Aktivisten, die das westdeutsche Parteiensystem in Ostdeutschland aufrechterhalten.