Letzte Nachricht von einem verlorenen Volk
Die Weltkonjunktur gegen Ende des zweiten Nachwendejahrzehnts hat Ostdeutschland nie richtig erreicht. Der Westen profitierte, frühere Ostblockstaaten erstarkten wirtschaftlich und setzten, nach Jahren großer Anstrengungen, auf mehr Lebensqualität, nur Ostdeutschland hatte keine Perspektive. Aber die Medien verbreiteten gute Stimmung und die Menschen ließen sich nur zu gern anstecken, zu groß war ihre Sehnsucht nach ein bisschen Normalität. Es floss noch einmal reichlich Geld in die öffentlichen Kassen des Beitrittsgebiets. Doch das Ende war bereits abzusehen, der Westen hatte den Solidarpakt aufgekündigt. Jahr für Jahr sollte es weniger zusätzliches Geld geben, bis schließlich gar nichts mehr im Osten ankäme, weder innerdeutsche Solidarzahlungen noch aus Brüssel überwiesene Sonderförderung. Am schwersten aber wog, dass Ostdeutschland an der Schwelle zum »demografischen Wandel« stand und sich ein Bevölkerungsrückgang abzeichnete, wie es ihn seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht |27|mehr in Mitteleuropa gegeben hat. Nun, da fast eine Generation seit der deutschen Einigung vergangen war, wurde deutlich, das ein Generationswechsel nicht stattfinden würde, nur wenige rücken nach. Die neue Generation ist zahlenmäßig weit kleiner als zu DDR-Zeiten geborene Jahrgänge, und sie ist anders. Ihre Sozialisation ist westdeutsch, ihre Orientierung ist westlich, die Suche nach beruflichen Chancen führt ein Großteil fort aus Ostdeutschland. Die Eltern und Großeltern schauen ihnen nach und hoffen, dass sie die Kinder hin und wieder besuchen. Kaum jemand glaubt ernsthaft daran, dass sie wieder zurückkommen. Ihr Fortgang besiegelt das letzte Kapitel der deutschen Einigung. Die Eltern und Großeltern bleiben zurück in einer Region, wo prekäre Arbeitsverhältnisse nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind und ein langer Arbeitsmonat nicht viel mehr einbringt als das staatlich garantierte Existenzminimum. Sie bleiben zurück in einem Landstrich, wo die Hälfte aller Erwerbsfähigen auf staatliche Wohlfahrt angewiesen ist, wo jeder Zweite fürchtet, im Alter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Es ist eine Region, in der bereits 43 Prozent Rentner leben, wo sich vier von zehn Menschen zum »abgehängten Prekariat« zählen und mit ausgesprochen heiklen Lebensverhältnissen zurechtkommen müssen (Sozialstudie TNS Infratest vom April 2007). Es ist ein Landstrich, wo mehr als ein Drittel der Unternehmen von Pflichtbeiträgen für die Industrie und Handelskammer freigestellt sind, wo – wie in Mecklenburg-Vorpommern – 851 Kommunen gerade mal 270 Millionen Euro Gewerbesteuereinnahmen für sich verbuchen (Stand 2006) und damit nur einen Bruchteil ihrer Verwaltungskosten begleichen können. Es sind Städte und Gemeinden, wo besonders viele junge Frauen abwandern und ein Männerüberschuss herrscht. Es sind Problemgegenden darunter, wo sich bereits unter Grundschülern eine bisher nicht gekannte Aggressivität ausbreitet, wo schon die Jüngsten von Hunger und Verwahrlosung geprägt sind und kaum jemals die Chance auf ein bürgerliches Leben haben.
Niemand weiß, wo das noch hinführt. Die gravierendsten Auswirkungen der deutschen Einigung werden erst in den kommenden Jahren sichtbar und in der gesamten westlichen Welt auf Interesse |28|stoßen. Die Zwangsläufigkeit der bevorstehenden Ereignisse macht Ostdeutschland zu einem Studienobjekt. Wenn die heutige Generation der Großeltern ihre letzte Ruhe findet, wird es kaum noch jemanden geben, der in die frei werdenden Mietwohnungen und Einfamilienhäuser zieht. Räumkommandos werden den Abriss ganzer Dörfer, Stadtteile und Wohnsiedlungen organisieren, um Vandalismus vorzubeugen. Mit dem Ableben der zahlenmäßig starken, vergleichsweise finanzkräftigen Rentnergeneration werden nach und nach viele der Einkaufszentren schließen, die in den 90er Jahren in größter Eile aus dem Boden gestampft wurden. Die Immobilienpreise werden noch drastischer fallen, Banken und Sparkassen mit den Wertberichtigungen kaum noch nachkommen. Immer mehr Kommunen werden Investitionskredite für die viel zu groß geratenen Wasserwerke und Kläranlagen, für leer stehende Gewerbegebiete und Verwaltungsgebäude nicht mehr bedienen können und nicht wissen, woher sie das Geld für die Bezahlung des öffentlichen Personals nehmen sollen. Spätestens dann wird sichtbar, was heute kaum jemand auszusprechen wagt: Die Bundesrepublik hat unter dem Banner der deutschen Einigung eine 108 000 Quadratkilometer große Problemregion mitten in Europa geschaffen und Millionen voller Vertrauen und Enthusiasmus in die Vereinigung gestartete Menschen betrogen und ihrer Existenzgrundlage beraubt.
Das Schlimmste ließe sich womöglich verhindern, wenn sich Deutschland sofort den Problemen stellen würde. Doch das neue Bundesgebiet wird im föderalen Verteilungskampf kaum noch wahrgenommen, schließlich steht auch der Westen vor eklatanten Problemen. Ihre schwerste Bewährungsprobe haben die ehemaligen DDR-Bürger noch vor sich. Unter rein ökonomischen Gesichtspunkten wäre es sinnvoll, die Regierung würde den ehemaligen DDR-Bürgern den Umzug in westdeutsche Bundesländer bezahlen und die ostdeutschen Verwaltungsgebiete – abgesehen von einigen Wirtschaftsstandorten – der Natur überlassen. Am Ende gibt es für alles eine Lösung. Wer kann schon genau sagen, wo Deutschland in zwanzig Jahren stehen und wie es dann im Osten aussehen wird. Das ist der Zeitpunkt, wo die letzten ehemaligen |29|DDR-Bürger aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Was werden ihre Enkel und Urenkel über sie denken? Welches geschichtliche Verständnis wird kommenden Generationen über ehemalige DDR-Bürger und ihren untergegangenen Staat vermittelt? Werden im Westen sozialisierte Historiker dieses Bild entwerfen oder werden auch jene gehört, die nicht nur eine, sondern beide Seiten kennen, die Erfahrungen in beiden deutschen Gesellschaftsentwürfen sammeln konnten? Vieles deutet darauf hin, dass sich die einseitige, vom Westen dominierte Sichtweise fortsetzen wird. Das wiedervereinigte Deutschland hat nur wenig Nutzen aus dem viereinhalb Jahrzehnte währenden ost-westdeutschen Gesellschaftsexperiment gezogen. Der Westen ist völlig uninspiriert in die Wiedervereinigung gegangen. Mit Blick auf die beängstigenden Tatsachen müssen es – um in der Wortwahl der Soziologen zu bleiben – überwiegend materiell und hedonistisch orientierte Altbundesbürger gewesen sein, die sich den Osten angeeignet haben. Aufgrund ihrer stabilen, im Westen erworbenen Wertvorstellungen fehlte ihnen jegliches Feingefühl für die in mehr als vier Jahrzehnten erworbenen Besonderheiten und Vorzüge der im Osten lebenden Menschen. Sie meinten, sie seien auf die aktive Mitwirkung der ehemaligen DDR-Bürger nicht angewiesen.
|31|Besitzt jemand nur so viel Vermögen, dass er davon nicht länger als ein paar Tage oder Wochen leben kann, denkt er wohl kaum daran, Einkünfte daraus zu erzielen. Er geht äußerst sparsam damit um und versucht durch seine Arbeit so viel zu verdienen, dass er Entnahmen ersetzen kann, bevor es vollständig aufgezehrt ist.
Adam Smith, ›Der Wohlstand der Nationen‹, London 1776