|97|Schulnoten für die ostdeutsche Wirtschaft
Die Treuhandanstalt hatte nun mehrere Tausend Unternehmen im Angebot, die nicht wettbewerbsfähig und hoch verschuldet waren, die keine konkurrenzfähigen Produkte herstellten und keine Investitionskredite bekamen und ihrer Belegschaft keinen Lohn zahlen konnten. Dieses Vermögen sollte die Behörde zu Geld machen, und das möglichst schnell. Was war so etwas eigentlich wert? Die Treuhandverantwortlichen hatten keine Ahnung und mussten sich erst einmal einen Überblick verschaffen. Allein wegen des Mengenproblems mussten Kriterien her, wie mit den Betrieben verfahren werden sollte. Die Berliner Zentrale ließ einen Stufenplan erarbeiten, damit der Treuhandbesitz nach einem einheitlichen, leicht verständlichen Prozedere bewertet werden konnte. Die Anstalt entschied sich für ein Bewertungsschema, das stark an das altbundesdeutsche Schulnotensystem erinnerte. Nach diesem Schema hatten die Treuhandmitarbeiter jeden einzelnen Betrieb zu benoten, wobei immer nur eine Zensur vergeben wurde, die unwiderruflich über den Werdegang des Unternehmens entschied. Die Kriterien für den Musterschüler, Note 1, lauteten: »Unternehmen arbeitet rentabel. Kein weiterer Sanierungsbedarf. Privatisierung zügig vorantreiben.« Ähnlich gut stand es um die mit einer 2 bewerteten Betriebe: »Unternehmen erreicht die Rentabilitätsschwelle voraussichtlich bald.« Nach den Statistiken der Treuhandanstalt fiel etwa jedes zehnte Unternehmen in eine dieser beiden Kategorien. Bei der Note 6, »Unternehmen nicht sanierungsfähig«, stellte sich lediglich die Frage: Liquidation oder Gesamtvollstreckung? Ebenso fiel die Note 5, »Sanierung erscheint zweifelhaft«, mit in die untere Kategorie. Als besonders schwierig erwiesen sich die Einstufungen 3 und 4, wobei besonders die Note 3 ein unerfreuliches Mittelmaß kennzeichnete, weil sich das so bewertete Unternehmen in einem Schwebezustand hielt und nicht mit Sicherheit gesagt werden konnte, ob es mehr zu der einen oder der anderen Seite tendierte. Die Entscheidungshilfen für die 3 waren deshalb besonders fordernd. »Verbindliche Kooperationspartnerschaft muss vorgewiesen werden«, |98|hieß es in den Schulungsunterlagen für die Treuhandmitarbeiter, »sonst Umstufung in die Gruppe 5 oder 6.« Zwei Unterpunkte gaben eine weitere Entscheidungshilfe für derlei unsichere, mit 3 bewertete Kandidaten. »Geringer Liquiditätsbedarf: Partner muss innerhalb eines Jahres gefunden sein. Hoher Liquiditätsbedarf: Nachweis eines Partners innerhalb einer kurzen Frist erforderlich.« Konnte der Partner nicht »innerhalb eines Jahres« beziehungsweise »innerhalb einer kurzen Frist« herbeigeschafft werden, war die Geduld der Treuhandanstalt am Ende, das Unternehmen wurde liquidiert.
Zu Beginn des Jahres 1991 wurden die Treuhanddirektoren zu einer Schulung nach Berlin gerufen. Daraufhin stellte jedes der betreffenden Direktorate eine sogenannte Task-Force aus anstaltseigenen Mitarbeitern, Unternehmensberatern und Wirtschaftsprüfern zusammen. Im Regelfall suchten immer ein Unternehmensberater und ein Wirtschaftsprüfer gemeinsam das betreffende Unternehmen auf und verschafften sich einen groben Überblick. Die eigentliche Benotung aber erfolgte am Behördenschreibtisch und in Sitzungsrunden. Im Wochenrhythmus wurde in allen Direktoraten der sogenannte Lenkungsausschuss zusammengerufen. Diese Runde setzte mehrere Unternehmen auf die Tagesordnung und ließ sich vom Task-Force-Gespann schildern, wie die Besuchstermine verlaufen waren. Unter dem Eindruck dieser Schilderung wurden die Einstufungen festgelegt, die unwiderruflich über die Zukunftschancen der Unternehmen und seiner Belegschaften entschieden. Binnen kurzer Zeit mussten mehrere Tausend Treuhandfirmen benotet werden, wobei immer nur 1 und 6 die klare, von den Treuhändern gewünschte Aussage trafen. Es ging immer um Sein oder Nichtsein, Überleben oder Abwickeln. Zwischen 2 und 5 bewertete Unternehmen konnten allenfalls ein bisschen Zeit schinden, dann stiegen sie entweder auf oder kamen ins Rutschen. Mitstreiter an dem Benotungswettbewerb sollten später, bei Befragungen im Treuhand-Untersuchungsausschuss zu Protokoll geben, sie hätten »um das Schicksal jedes einzelnen Unternehmens gerungen«.