Fünf neue Nehmerländer
In den sechs ostdeutschen Bundesländern leben derzeit (Anfang 2006) 17 Millionen Menschen. Das größte Bundesland, Nordrhein-Westfalen, hat allein 18 Millionen Einwohner, eine Million mehr als das gesamte Ostdeutschland. Ostberlin wurde sozusagen aus Gründen der statistischen Berechenbarkeit dem alten Bundesland Berlin zugeschlagen, und gilt als altbundesdeutsches Refugium inmitten der fünf neuen Länder. Derzeit führt Berlin, aufgrund der von Westberlin mit in die Einigung gebrachten Verbindlichkeiten, die Schuldenrangliste der Länder an, doch die anderen ostdeutschen Länder, ausgenommen Sachsen, sind bereits auf dem besten Weg in die Katastrophe und könnten Berlin den Spitzenplatz schon bald streitig machen. Es gehört zu den großen Geheimnissen des deutschen Beamtenstaates, warum für ein Fünftel der deutschen Bevölkerung sechs Bundesländer geschaffen wurden. Es wurde an nichts gespart, damit Ostdeutschland den kompletten bürokratischen Überbau bekam, und das gleich in sechsfacher Ausführung. Sechs mit hauptamtlichen Abgeordneten besetzte Parlamente, sechs ihnen unermüdlich zuarbeitende Gesetzgebungsmaschinerien, sechs vollendete Ministerialbürokratien mit all den kaum noch zu überschauenden Nachfolgeeinrichtungen der staatlichen Fürsorge von den Zuständigkeiten |166|für die Kinderbetreuung bis zu Tagesstättenangeboten für psychisch Kranke. Sechs Oberfinanzdirektionen, sechs Landesrechnungshöfe, sechs Landespolizeiämter, Oberverwaltungsgerichte, Behörden zum Schutz von sechs Landesverfassungen, sechs Behörden zur Lebensmittelüberwachung, Landesschulämter, Landesversicherungsanstalten,…
Die heutigen Landesstrukturen gehen zurück auf die nach Ende des Zweiten Weltkrieges von den Alliierten geschaffenen Verwaltungsgebiete. Im Wesentlichen folgen die Ländergrenzen auch heute noch denen der vier Besatzungszonen. Die Besatzungsmächte haben zwischen 1945 und 1947 nicht nur die Landes- und Provinzialverwaltungen in ihrer jeweiligen Zone aufgebaut, sie haben auch die Länderchefs bestimmt, die anfangs ohne die Legitimation der Wähler regierten und die Anweisungen der Alliierten zu befolgen hatten. Den föderalen Strukturen mit ausgeprägten Länderkompetenzen lag die Idee zugrunde, dass die vielen, sich auf Länderebene behauptenden Machtzentren ein Gegengewicht zur Bundesregierung bilden würden und sich in einer deutschen Föderation nicht wiederholen könne, was das zentral verwaltete, nationalsozialistische Deutschland der Welt vorgeführt hatte. In den westlichen Besatzungszonen etablierten sich die Landesstrukturen. Dagegen standen eigenständige Bundesländer den Bestrebungen Josef Stalins und der ostdeutschen Partei- und Staatsführung im Wege. Offenbar fürchteten die Machthaber mögliche Alleingänge. Die erst 1947 geschaffenen und schon damals in ihrem Zuschnitt zu klein geratenen Länder, wurden schon 1952 wieder aufgelöst und in der DDR durch 15 Verwaltungsbezirke ersetzt, die der Zentralregierung in Ostberlin unterstanden.
Es bestand keine Notwendigkeit, nach der Wende zu Verwaltungsstrukturen zurückzukehren, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für kurze Zeit bestanden, sich aber nie etabliert hatten. Ein einziges Bundesland in den Grenzen der früheren DDR mit Berlin als Landeshauptstadt wäre ohne Weiteres denkbar gewesen und hätte den Erfordernissen der Wirtschaftsförderung und der Notwendigkeit geringer Verwaltungskosten weit besser entsprochen als dieser föderale Flickenteppich. Ein kostengünstiges |167|und überschaubares Verwaltungsgefüge musste den westdeutschen Strukturen weichen. Warum wurde im Osten, angesichts hoher Kassenbeiträge, das bewährte System der Polikliniken aufgegeben und stattdessen das westdeutsche, kostspielige System der Doppelversorgung von Krankenhäusern und niedergelassenen Fachärzten etabliert? Warum wurde in Ostdeutschland der Vorzug eines einheitlichen, auf verbindlichen Leistungsstandards fußenden Schulsystems aufgegeben und durch das Chaos sechs teilweise völlig unterschiedlicher Schulsysteme ersetzt? Warum wurde eines der besten Kinderbetreuungssysteme der Welt auf den dringend erneuerungswürdigen altbundesdeutschen Standard zurückgeführt? Warum wurden die sozialpolitischen Maßnahmen, die ostdeutschen Frauen ein Leben in Gleichberechtigung ermöglichten, nicht aufrechterhalten?
Es gibt noch viele solcher Fragen. Westdeutschland wollte einfach nicht wahrhaben, dass die in viereinhalb Jahrzehnten deutscher Teilung entstandene Eigenständigkeit in Ostdeutschland immer wieder Lösungen hervorgebracht hatte, von denen das wiedervereinigte Deutschland heute profitieren könnte.