|247|Der Berufsoppositionelle
Es geschah auf einer dieser Versöhnungsveranstaltungen gleich nach der Wende, als sich Opfer und Täter gegenübersaßen, der Oppositionelle und der Stasioffizier. »Keiner«, sagte der ehemals hauptamtliche Stasimitarbeiter, »hat uns so beschäftigt wie der Herr Lietz. Heute war er auf einem Kirchentreffen in Güstrow, morgen sprach er schon wieder auf einer Veranstaltung in Dresden, und auf dem Rückweg traf er sich noch mit Gleichgesinnten in Berlin. Herr Lietz hat uns ständig in Bewegung gehalten. Wir hatten wirklich große Mühe«, und dabei sah der Stasioffizier respektvoll zu seinem Opfer, »bei seinem Tempo mitzuhalten.«
Heiko Lietz, einer der führenden DDR-Oppositionellen, erwiderte den Blick. Der für gewöhnlich ernste Mann strahlte über das ganze Gesicht. Die Atmosphäre, anfangs noch geladen, entspannte sich. Jetzt lächelten beide, der Täter und sein Opfer. »Ich wusste immer«, erwiderte Heiko Lietz, »wie weit ich gehen konnte. Ich wollte doch nicht ins Gefängnis. Ich wollte etwas verändern.«
Was kurz nach der Wende noch wie eine rundum gelungene Versöhnung wirkte, gerät heute zum Agententhriller. »Ich hatte zwei Bataillone Schutzengel«, sagt Heiko Lietz, »sonst würde es mich heute möglicherweise nicht mehr geben.« Der Name Heiko Lietz, das ist verbürgt, lief bei der Stasi als so genannter Operativer Vorgang »Zersetzer«. »In der Berliner Stasizentrale wurden 1985 extra zwei Leute freigestellt, die sich nur mit mir befassten.« Heiko Lietz sieht sich »als einen der von der Staatssicherheit am meisten gefürchteten Oppositionellen«. Die mit seiner Person betrauten Stasioffiziere hätten einen Kampfauftrag zu erfüllen gehabt, »die Lösung des Problems Heiko Lietz«. Es existierte ein neun Seiten langer »Zersetzungsplan«, durch dessen Abarbeitung seine Glaubwürdigkeit erschüttert werden sollte. So sollte beispielsweise, meint Heiko Lietz, seine Mobilität eingeschränkt werden, indem ihm die Fahrerlaubnis entzogen wurde. Weiterhin, das vermutet er zumindest, sollte seine Frau zur Scheidung bewegt werden. Und auch die Kinder seien in der Schule beeinflusst und gegen den Vater eingenommen worden. »Die Stasi wäre bis zum |248|Äußersten gegangen und hätte, um das Problem ›Zersetzer‹ ein für alle Mal vom Tisch zu haben, sogar einen tödlichen Unfall inszeniert.«
Anfangs, als die damalige Gauck-Behörde ihre Arbeit noch nicht aufgenommen und Stasiunterlagen nicht eingesehen werden konnten, ging das Gerücht, die Akten über den Operativen Vorgang »Zersetzer« würden eine Regallänge von zwei Metern beanspruchen. Gefunden wurden 30 Zentimeter. »Das Meiste«, ist Heiko Lietz überzeugt, »wurde vernichtet.« Er selbst schätzt die Zahl derer, die wirklich etwas verändern wollten und auch bereit waren, »dafür etwas zu riskieren«, ostdeutschlandweit auf 80 bis 100 Leute. Heiko Lietz hat die meisten von ihnen persönlich gekannt. Er selbst war »einer der Drahtzieher in der gesamten Opposition in der DDR«. Sein politisches Engagement erstreckte sich praktisch über sein gesamtes Berufsleben. »Schon als Kind hatte ich ein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein. Wenn einer über mich bestimmen wollte, dann habe ich mich gewehrt. Das ging schon los, als meine Mutter – ich bin Linkshänder – sagte, ich soll mit Rechts schreiben. Das war gegen meine Natur. Und wenn mich einer in meiner Natur verbiegen will, dann regt sich in mir Widerstand.« Heiko Lietz studierte Theologie und arbeitete als Pfarrer. Der Bibelspruch: »Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit«, ist sein Lebensmotto. In der Wendezeit wird er einer der Mitbegründer der Bürgerrechtspartei »Neues Forum«, später gehört er mit zu denen, die verschiedene Bürgerrechtsbewegungen im »Bündnis 90« zusammenfassen. 1993 gründet er in Mecklenburg-Vorpommern den Landesverband »Bündnis 90/Die Grünen«, wird zum Sprecher gewählt, erklärt aber schon nach drei Jahren seinen Austritt. Danach engagiert er sich »in der Regionalpolitik und in basisdemokratischen Gruppen«.
Jetzt, da er die sechzig überschritten hat, fühlt er sich immer noch kräftig und gesund und will zunächst einmal für die nächsten zehn Jahre weitermachen. »Ich bin erbost und immer noch zornig! Mein Herr und Meister hat noch eine Aufgabe für mich. Das 1989 war der erste Teil, jetzt kommt der zweite Teil der Revolution. Es geht um eine grundsätzliche Veränderung des Systems, um eine |249|Gesellschaft jenseits des Kapitalismus. Es geht um das Recht auf Arbeit. Eine Gesellschaft, die das nicht zustande bringt, hat keine Daseinsberechtigung. Es ging uns nie darum, dass wir den Kapitalismus westdeutscher Prägung wollten, wir wollten den Sozialismus aus seiner Erstarrung erlösen – eine demokratische Gesellschaft, durchaus mit marktwirtschaftlichen Elementen.« Heiko Lietz war in seinem Leben »sieben oder acht Mal arbeitslos«, zuletzt musste er sich Anfang 2004 beim Arbeitsamt melden. Seit dem 1. November 2005, nach 22 Monaten Arbeitslosengeld, ist er Frührentner und verfügt über »ein geringes, aber sicheres Einkommen«. Seine Frau hat sich von ihm getrennt. Er unterhält jetzt ein kleines Bürgerbüro in Schwerin, Am Packhof 8, ganz in der Nähe vom Bahnhof. Es ist genug zu essen und trinken da, und es reicht auch für die Miete. »Ich hab nicht viel mit mir herumzuschleppen, ich hab ein ganz leichtes Gepäck.« Freunde unterstützen ihn mit Spenden. »Ich bin der Letzte, die anderen von damals haben sich alle irgendwie arrangiert.« Marianne Birthler ist Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Matthias Platzeck Ministerpräsident von Brandenburg. »Eigentlich sollte ich den beiden mal schreiben, damit sie mir 20, 30 Euro monatlich als Spende für mein Bürgerbüro überweisen.« Das Büro liegt direkt unter dem Dachboden, es ist klein, hat schräge Wände, aber »es ist preiswert, warm, und ich sehe den Himmel. Und von hier aus ziehe ich meine Fäden.«