Die Stille nach dem Schuss
Der Schuss traf Detlev Karsten Rohwedder im ersten Stock seines Düsseldorfer Hauses am Kaiser-Friedrich-Ring. Es war der 1. April 1991, gegen 23.30 Uhr. Der Treuhandchef stand mit dem Rücken zum Fenster, als die Kugel die Scheibe durchschlug. Der Attentäter feuerte noch zwei weitere Schüsse ab. Einer verletzte die ins Zimmer stürzende Ehefrau, die dritte traf ins Bücherregal. Am Tatort, ein Schrebergarten am Rheinufer, etwa 63 Meter gegenüber dem Haus, lag ein Bekennerschreiben, unterzeichnet mit »Kommando Ulrich Wessel«.
Nachlesen lässt sich das alles auf den Internetseiten www.rafinfo.de, der »Webressource zur Roten Armee Fraktion«. Dort findet sich auch ein Foto von Rohwedders Haus und vom »Standort des Mörders«. In der detaillierten Beschreibung des Tathergangs wird näher auf »das Fehlschlagen sämtlicher Sicherheitsmaßnahmen« eingegangen. »So waren beispielsweise nur im Erdgeschoss Fenster mit schusssicherem Panzerglas eingebaut worden, während der erste Stock, in dem Rohwedder erschossen wurde, gänzlich ungeschützt war.« Auf den RAF-Seiten lassen sich auch das Bekennerschreiben (»Gegen den Sprung der imperialistischen Bestie – unser Sprung im Aufbau revolutionärer Gegenmacht«) und die Erklärung des Verfassungsschutzes zur »Ermordung Dr. Rohwedders durch die RAF« nachlesen. Wer möchte, kann auch gleich noch auf den Button »Mitglied werden« klicken, ein Aufnahmeformular ausfüllen und Mitglied der RAF werden.
Die Wahrheit ist, dass der Mord an Detlev Karsten Rohwedder, |90|der allgemein der RAF zugeschrieben wird, bis heute nicht aufgeklärt werden konnte. Immer noch ranken sich die absurdesten Vermutungen um den Mordfall, und nicht nur um den von Detlev Karsten Rohwedder, sondern um alle, seit 1985 der RAF zugeschriebenen Morde an Industriepersönlichkeiten. Im Mai 2001, ziemlich genau zehn Jahre nach dem Mord an dem Treuhandchef, warteten die Ermittlungsbehörden mit einer neuen Spur auf. Die Generalbundesanwaltschaft teilte mit, dass die Ermittlungen »durch die Anwendung neuer wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden einen entscheidenden neuen Impuls erhalten haben«. Einer DNA-Analyse zufolge »kann eine Haarspur zweifelsfrei Wolfgang Grams zugeordnet werden«. Das untersuchte Haar stammte nach Informationen der Generalbundesanwaltschaft von einem im April 1991 am Tatort, im Schrebergarten gegenüber Rohwedders Haus »sichergestellten Frotteehandtuch«. Wolfgang Grams, den das Bundeskriminalamt zu den führenden Köpfen der »dritten RAF-Generation« zählt, verstarb nach einem aufgesetzten Kopfschuss am 27. Juni 1993 auf den Gleisen des Bahnhofs im mecklenburgischen Bad Kleinen. Die Umstände seines Todes konnten bis heute nicht aufgeklärt werden. Zum Todeszeitpunkt hatten die Ermittlungsbehörden die Haarspuren von dem Frotteehandtuch bereits zwei Jahre lang aufbewahrt, doch kein Ermittler verglich diese Haare mit denen des obduzierten Wolfgang Grams, dem angeblich führenden Kopf der RAF. Eine »molekularbiologische Untersuchung« war gar nicht erforderlich, ein simpler, mikroskopischer Vergleich von Haarspuren aus dem Handtuch und vom getöteten Wolfgang Grams hätte ausgereicht. Der Vergleich dieser Haarproben war derart naheliegend und so zwingend geboten, dass man hier nicht mehr an eine Ermittlungspanne glauben mag. Doch inzwischen war Wolfgang Grams, da die Generalbundesanwaltschaft überraschend mit der DNA-Analyse aufwartete, bereits seit acht Jahren tot. Und selbst wenn dies alles zutreffen sollte, legte die DNA-Analyse bestenfalls nahe, dass Wolfgang Grams sich möglicherweise mit dem am Tatort gefundenen Handtuch abgetrocknet, aber nicht, dass er auf Detlev Karsten Rohwedder geschossen hatte.
|91|Die Journalisten Gerhard Wisnewski, Wolfgang Landgraeber und Ekkehard Sieker gingen in ihrem 1997 erschienenen Buch ›Das RAF-Phantom‹ einer Reihe von Merkwürdigkeiten um die RAF nach, studierten Akten, sprachen mit Angehörigen der mutmaßlichen Täter und mit Opfern und kamen zu dem Schluss, die dritte RAF-Generation sei nicht mehr als eine unbewiesene Behauptung der Sicherheitsbehörden, der klug inszenierte Staatsfeind Nr. 1. Die Bekennerbriefe, die der RAF zugeschrieben werden und auf die sich nahezu die gesamte Beweislage gründet, hätten in der vorliegenden Form von jedermann angefertigt werden können.
So bleibt auch künftig viel Raum für Spekulationen. Verbürgt ist dagegen, wie sich der Mordfall auf die weitere Vorgehensweise der Treuhandanstalt auswirkte. Fortan spannte sich Birgit Breuel vor den Karren und zog tiefe Furchen durch die ostdeutsche Industrielandschaft. Die resolute Chefin, von der es bewundernd hieß, dass »Führungskräfte der deutschen Wirtschaft erhobenen Hauptes zu ihr ins Zimmer reinmarschierten und wie Schuljungs wieder rauskamen«, setzte fortan auf den schnellstmöglichen Verkauf des Volksvermögens, und das um jeden Preis. Grimmig und ohne erkennbare Selbstzweifel führte diese Frau das Privatisierungsgeschäft bis zum bitteren Ende. Doch bevor es an die Arbeit ging und sich Deutschland die Zukunft ruinierte, hielt die Nation noch einmal den Atem an: Detlev Karsten Rohwedder war tot, ermordet in seinem Haus in Düsseldorf. Alle spürten dieses beklemmende Gefühl in der Brust, hielten für einen Moment inne und stellten sich die bange Frage: Läuft hier wirklich alles richtig? Aber wie so häufig, wenn man nicht recht weiterweiß, flüchtet man sich in die Arbeit, und auf den Schreibtischen der Treuhandmitarbeiter hatte sich eine Menge angesammelt. Die Frage nach einer grundlegenden Korrektur verlor sich unter Bergen von DM-Eröffnungsbilanzen, Gutachten, Kaufverträgen und dem ganzen lästigen Papierkram, wie er üblicherweise bei Liquidationen anfällt.