|99|Ablasshandel in Wittenberg

Gott erlässt überhaupt keinem die Schuld, ohne ihn zugleich demütig zu unterwerfen.

 

Martin Luther

Lothar Bley gehörte zu den wenigen handverlesenen DDR-Bürgern, die etwas von der Welt zu sehen bekamen. Er war NSW-Reisekader (NSW stand für nichtsozialistisches Wirtschaftslager) und durfte ungehindert ins kapitalistische Ausland reisen, ein Privileg, um das ihn Millionen Landsleute glühend beneideten. Bereits 1967, damals 27 Jahre alt, fuhr er zum ersten Mal im Auftrag des Staates nach Ägypten. Dort handelte er mit Landtechnik, vornehmlich Traktoren, Mähdreschern, Bodenbearbeitungsgeräten, und verschaffte der DDR begehrte Deviseneinnahmen. Später lebte er mit seiner Familie einige Jahre als DDR-Außenhandelsposten in Indien, und als er danach wieder nach Ägypten zurückkehrte, leitete er in Kairo das Technisch Kommerzielle Büro, eine Außenstelle des Außenhandelsministeriums. Dort drehte sich alles um Getreidemühlen, vor allem aber um Reis, um das Schälen, Schleifen, Polieren und Sortieren von Reiskörnern. Die DDR war weltweit führend in den Verarbeitungstechnologien von Getreide und Hülsenfrüchten, neben Reis, Roggen und Weizen auch in der Verarbeitung von Erbsen, Bohnen, Linsen und Sonnenblumen.

Nach 13 Jahren Auslandseinsatz, das war 1980, wurde ihm ein neues Aufgabengebiet angetragen. Den Ausschlag für die Rückkehr gab sein Sohn. Falls er mit seiner Frau und der jüngeren Tochter noch länger in Kairo bleiben wollte, hätte er den Jungen in der DDR in ein Schulinternat geben müssen. Das aber kam für die Familie nicht infrage. Seinen neuen Einsatzort fand Lothar Bley in Wittenberg, in den Wittenberger Mühlenwerken, wo genau jene Anlagen zur Verarbeitung von Reis und Getreide hergestellt wurden, mit denen er über viele Jahre im Ausland Handel getrieben hatte. Auch hier war er wieder für den Verkauf zuständig und reiste häufig ins Ausland, neben den Geschäftsbeziehungen im Nahen Osten übernahm er nun auch den Markt in Südamerika.

|100|Die politische Wende erlebte Lothar Bley, wie er sagt, »in der 3. Leitungsebene«. Der plötzliche Wandel vom Volkseigenen Betrieb zum Treuhandunternehmen, fehlendes Mitspracherecht und die üblichen Hinweise auf den rettenden Investor verhinderten eigene Initiativen und dringend notwendige Schritte zur Anpassung an die neuen Verhältnisse. Die Treuhandanstalt entließ die alte Geschäftsführung und besetzte die Chefetage mit eigenen Leuten. Im Jahre 1991 gab es zwei Privatisierungsversuche, die beide scheiterten. »Bei der Privatisierung«, erinnert sich Lothar Bley, »ging es immer nur um die Immobilie, aber nie um die Weiterführung des Unternehmens.« Die exponierte Lage am Stadtrand in Sichtweite der Schlosskirche, an deren Tor Martin Luther im Jahre 1517 seine 95 Thesen anschlug, weckte die Begehrlichkeiten von Immobilienmaklern. Die Betriebsgebäude sollten abgerissen werden und auf dem Gelände ein Einkaufsmarkt entstehen. Doch die Stadtverordneten versagten ihre Zustimmung. Das Traditionsunternehmen, bereits 1887 als »Mühlenbauanstalt Anton Wetzig« gegründet, gehörte zu den größten Arbeitgebern der Stadt. Anfangs konzentrierte sich die Firma vor allem auf Maschinen zur Verarbeitung von Roggen und Weizen. Das erste Auslandsgeschäft, der Bau einer Graupenmühle in Polen, datiert aus dem Jahr 1899. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem durch den Bau eigener Wasserturbinen zum Antrieb der Getreidemühlen, nahm das Maschinenbauunternehmen einen ungeahnten Aufschwung. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg, der Verstaatlichung und planwirtschaftlichem Zentralismus konnten die Wittenberger Mühlenwerke ihre Marktstellung ausbauen. Zu DDR-Zeiten hatte das Unternehmen einen Weltmarktanteil von 13 Prozent und war mit seinen Getreidemühlen und Schälmaschinen auf allen Kontinenten präsent. Mühlen aus Wittenberg wurden in 56 Länder geliefert, der Exportanteil lag bei 65 Prozent. Selbst als Treuhandunternehmen machten die Mühlenwerke noch einen Jahresumsatz von 13 Millionen D-Mark.

Dennoch winkten die Verantwortlichen in der Treuhandniederlassung Halle, genervt von zwei gescheiterten Privatisierungsversuchen, endgültig ab. Über den Mühlenwerken lag das Verdikt |101|»nicht sanierungsfähig«, und damit war das Schicksal des Unternehmens besiegelt. Der gewohnte Abwicklungsprozess wurde in Gang gesetzt. »Wir, die unterzeichnenden alleinigen Gesellschafter der Maschinen- und Mühlenbau Wittenberg GmbH«, schrieb die Treuhandanstalt, »halten hiermit unter Verzicht auf alle gesetzlichen und gesellschaftsvertraglichen Fristen und Ankündigungen eine außerordentliche Gesellschafterversammlung ab und beschließen einstimmig die Auflösung der Gesellschaft.« Fortan führte die Maschinen- und Mühlenbau GmbH den Status i. L., in Liquidation. Verfasst hatte die hochtrabenden Worte der später zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilte Rechtsanwalt Sven Andreas, damals in der Treuhandfiliale Halle zuständig für Privatisierung, Reprivatisierung und Liquidation.

Ottmar Hermann, ein Rechtsanwalt aus Frankfurt am Main, übernahm das Abwicklungsverfahren. Er fuhr nach Wittenberg, sah sich alles an und fragte Lothar Bley, ob er nicht ein paar Abwicklungsaufgaben übernehmen könne, unter anderem müsse sich jemand um die begonnenen und noch nicht abgeschlossenen Aufträge und um die Garantieverpflichtungen kümmern. Lothar Bley hörte die Botschaft und fragte sich: »Das kann doch wohl nicht alles gewesen sein?« Niemand konnte sich vorstellen, dass ein international erfolgreiches Unternehmen, das noch dazu über einzigartige Technologien verfügte, einfach ausgelöscht werden sollte und jene Fläche am Stadtrand von Wittenberg, wo seit über hundert Jahren Maschinen und Anlagen zur Verarbeitung von Getreide und Hülsenfrüchten hergestellt und in alle Welt exportiert wurden –, dass jenes traditionsreiche Werksgelände »von Altlasten beräumt« und Immobilienspekulanten überlassen werden sollte. »Die jahrelange Kundschaft«, sagt Lothar Bley, »hat das auch nicht glauben wollen.« Er redete mit der inzwischen von 900 auf nur noch 210 Mitarbeiter geschrumpften Belegschaft und fand vier Mitstreiter. Gemeinsam überlegten sie, wie sich die Mühlenwerke weiterführen ließen und wandten sich mit der Frage an den Liquidator, ob er »erlauben würde, dass wir das hier eigenständig weitermachen?«. Es war eine bange Frage. Bei all den Problemen, die inzwischen auf den Mühlenwerken lasteten, war es wohl eher |102|eine Befürchtung als die Hoffnung, Ottmar Hermann könnte zustimmen. Und so kam es tatsächlich, der Liquidator stimmte zu, sollten sie es doch versuchen, allerdings, darüber müssten sie sich immer im Klaren sein, es gebe »keine müde Mark«.

Daraufhin redete Lothar Bley mit den Geschäftspartnern in aller Welt und sagte ihnen: »Uns gibt es noch, wir machen weiter!« Dann mussten Geldgeber gefunden werden. Lothar Bley interessierte zwei Geschäftsleute mit »Osterfahrung«, Helmuth Benz und Bernd Tiedig, für die Mühlenwerke. Die beiden Unternehmer hatten in Westberlin bis zur Wende kleinere Firmen geleitet und konnten seitdem durch die Chancen, die sich westlichen Geschäftsleuten im Beitrittsgebiet boten, gewaltig an Größe zulegen. Beide erklärten sich bereit, mit der Treuhandniederlassung um den auf 6,6 Millionen Mark festgelegten Kaufpreis zu verhandeln und im Falle einer Übereinkunft als Gesellschafter bei den Mühlenwerken einzusteigen.

Als sich abzeichnete, dass die Belegschaft das Unternehmen retten könnte, plädierte der Liquidator bei der Treuhandfiliale in Halle für die »Einstufung als wieder sanierungswürdig«. Ottmar Hermann setzte sich bei einer Zusammenkunft des Lenkungsausschusses in Szene, referierte über die Historie und die Marktchancen der Mühlenwerke und verkaufte den staunenden Filialmitarbeitern die Rettung des Unternehmens als das Ergebnis seiner siebenmonatigen, harten Sanierungsarbeit. Die Treuhandmitarbeiter waren irgendwie gerührt. In einer Gegend, in der sie wild die Sense schwangen, keimte ein Saatkorn. Sie fuhren von Halle nach Wittenberg, und als sie mit eigenen Augen sahen, dass sich bei den Mühlenwerken doch noch etwas regte, stimmten sie der »Einstufung als wieder sanierungswürdig« zu.

Lothar Bley, der die Mühlenwerke fortan leitete, erhielt keinen Einblick in die Kaufverhandlungen. Letzten Endes, meint er, hätten die Gesellschafter nach den Verhandlungen nur noch 1,6 Millionen D-Mark für den Unternehmenskauf aufbringen müssen. Der Start für die am Ende noch 110 übernommenen Mitarbeiter hätte ungünstiger kaum sein können. Keine Förderung, keine Kredite, sondern ganz im Gegenteil die Belastung durch einen »Betriebsmittelkredit«, |103|der mit dem Kaufpreis verrechnet worden war und jetzt das Unternehmen belastete. Der Kredit musste sozusagen in Form von Garantieleistungen und Sanierungsarbeiten abgearbeitet und laufend gegenüber der Treuhandanstalt abgerechnet werden. »Und dann«, erzählt Lothar Bley, »war etwas ganz Dummes passiert.« Im Hinblick auf die anstehende Liquidation hatten die Gewerkschaften noch in aller Eile Lohnerhöhungen durchgesetzt. Nach dem letzten Verdienst richtete sich die Höhe des Arbeitslosengeldes. »Die Einstufungen lagen 2 bis 3 Lohngruppen über denen in vergleichbaren westdeutschen Unternehmen.« Am Ende war es die Belegschaft selbst, die ihn zum Durchhalten ermutigte, selbst »wenn kein Geld für Löhne da war und alle warten mussten, bis wir wieder Einnahmen hatten«.

Und dann, das war 1994, gewannen die Mühlenwerke die Ausschreibung für einen Großauftrag in Syrien. Es ging um den Bau von fünf Getreidemühlen, jede mit einer Tageskapazität von 500 Tonnen Weizen. Es sollten nicht nur die Maschinen geliefert und in Betrieb genommen werden, der Vertrag umfasste auch die gesamte Infrastruktur von den Getreidesilos über die Transformatoren- und Dieselgeneratorstation, Wasseraufbereitungsanlage, Verwaltungsgebäude, Wohnhäuser für die Beschäftigten und deren Familien, und selbst die Ausbildung des Mühlenpersonals war Teil der Vereinbarung. Alles in allem belief sich das Auftragsvolumen auf die Summe von 200 Millionen D-Mark. Dann folgten Aufträge in Ägypten, im Iran, in China, Kasachstan und Turkmenistan. Dennoch konnte sich das angeschlagene Unternehmen nie wieder ganz erholen. Marktführer und zugleich Hauptkonkurrent war das in der Schweiz ansässige Unternehmen »Bühler« mit 6800 Beschäftigten. Im Wesentlichen verkaufte das Unternehmen Technologien, die zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts oder zu DDR-Zeiten entwickelt worden waren. Um mithalten zu können, musste in Forschung und Entwicklung investiert werden. Doch dafür hatten die Eigentümer kein Ohr. »Die dachten in kurzen Zeiträumen, die wollten schnell Geld verdienen. Investitionen in die Entwicklung neuer Technologien hielten die für Geldverschwendung.« Im Jahre 1997 spitzten sich die Auseinandersetzungen |104|mit den Gesellschaftern zu. Schließlich machten Helmuth Benz und Bernd Tiedig ein Verkaufsangebot. »Eigentlich«, sagt Lothar Bley, »hatte ich nicht die Absicht, den Betrieb zu übernehmen.« Aber dann, 1998, im Alter von 58 Jahren, konnte er gemeinsam mit dem Kaufmännischen Leiter Frank Theile das Geld auftreiben und die Gesellschafter auszahlen. Über den Kaufpreis möchte er nicht reden. »Die haben sich«, sagt Lothar Bley ausweichend, »ihren Ausstieg noch einmal gut bezahlen lassen.«

Im März 2003 erklärte Lothar Bley seinen Austritt aus den Arbeitgeberverbänden, führte die 40-Stunden-Woche ein und korrigierte die Lohn- und Gehaltseinstufungen. Seither gibt es nur noch 26 Tage Urlaub, Weihnachtsgeld wird nach Ertragslage gezahlt. Proteste der Gewerkschaften und die Klage des Hauptkonkurrenten brachten die Mühlenwerke erneut in eine prekäre Lage. »Es war keine vernünftige Lösung zu finden«, sagt Lothar Bley. Die Mühlenwerke mussten, elf Jahre nachdem die Liquidation in letzter Minute abgewendet werden konnte, doch noch in die Insolvenz geführt und neu gegründet werden. Seitdem heißt das Wittenberger Traditionsunternehmen »MMW Systems GmbH«.

Abbau Ost
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