|80|Der Küstenwald
Iris-Maria Mazewitsch und Wolfgang Gulbis wirkten unsicher, als sie den Saal der Rostocker Ostseesparkasse betraten und intuitiv nach zwei Plätzen suchten, von denen aus sie das Geschehen gut überblicken konnten, ohne dass sie selbst gleich alle Blicke auf sich zogen. Sie waren viel zu früh gekommen. Die Auktion sollte um 11.00 Uhr beginnen, sie würden allerdings erst für die Katalognummer 88 bieten, den 36 800 Quadratmeter großen Küstenwald. Das Bild im Auktionskatalog zeigte die blau kolorierte Ostsee, den hellen Strand und, schwarz schraffiert, den Beginn der Ortsbebauung des Ostseebades Rerik. Dazwischen war das schmale Waldstück eingezeichnet, das sich, so stand es im Begleittext, »entlang der Küste erstreckt und hinter der Straße ›Zur Liebesschlucht‹ und ›Am Wäldchen‹ endet«. Das Mindestgebot war auf 12 500 Euro festgesetzt.
Iris-Maria Mazewitsch und Wolfgang Gulbis setzten sich und schauten sich um. Sie sahen einige bekannte Gesichter. Die Leute nickten ihnen ermutigend zu und sie erwiderten den Gruß mit einem Lächeln. Bürgermeister Wolfgang Gulbis bekam schon seit Wochen immer wieder Anrufe von Bürgern aus Rerik, und alle sagten ihm, dass der Küstenwald auf keinen Fall in private Hände geraten dürfe. Aber das wusste er auch selbst. Sollte der Küstenwald in die falschen Hände geraten, wären die Folgen kaum abzusehen. Und eigentlich konnte er sich auch gar nicht vorstellen, dass außer der Gemeinde jemand für den Küstenwald bieten würde. In dem etwa 75 Meter breiten, bewaldeten Schutzstreifen zwischen Steilküste und Ostseebad herrschte absolutes Bauverbot. Die Küste hatte sich nach Sturmfluten in den letzten hundert Jahren bereits 45 Meter landeinwärts verschoben. Ein Wanderweg führte durch den Küstenwald, dort unterhielt die Gemeinde Wanderhütten, Bänke standen dort und die Toilettenhäuschen für die Badegäste. Durch den Küstenwald führten die Wege von den Pensionen und Ferienwohnungen zu den öffentlichen, sechzehn Meter hohen Strandtreppen. Die Stadtvertreter bezeichneten den Küstenwald als »das touristische Rückgrat« der Gemeinde, und da |81|sich die Kleinstadt den Kauf eigentlich nicht leisten konnte, hatten in den letzten Wochen viele Bürger ihre Spendenbereitschaft signalisiert und die ersten bereits ihren Beitrag auf das Gemeindekonto überwiesen.
Der Auktionator rief die erste Katalognummer auf. Der Bürgermeister und die Amtsleiterin hörten sich das immer gleiche Prozedere einige Male an und gingen dann in die Kantine, wo sie das Auktionsgeschehen über Lautsprecher verfolgen konnten. Sie aßen eine Kleinigkeit und redeten noch einmal über ihr Gebot, obwohl sie das alles nun schon so oft durchgegangen waren, dass es eigentlich nichts mehr zu sagen gab. Die Angelegenheit kam durch eine baurechtliche Anfrage auf den Tisch der Amtsleiterin, ein simpler Verwaltungsakt, für den ein Formular ausgefüllt und an den Antragsteller geschickt werden musste. Was das Baurecht im Küstenwald betraf, so handelte es sich lediglich um die amtliche Bestätigung einer allseits bekannten Tatsache: Nichts war möglich. Damit schien die Angelegenheit erledigt, aber dann fand der Bürgermeister im Auktionsanzeiger den Versteigerungstermin für den Küstenwald, und das war das erste Mal, dass er und die Amtsleiterin von den Verkaufsabsichten erfuhren. Bürgermeister Wolfgang Gulbis rief daraufhin bei der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, dem früheren Bundesvermögensamt, an. Der verantwortliche Beamte vertrat den Standpunkt, dass mit der baurechtlichen Anfrage die Verkaufsabsicht deutlich gemacht, die Kommune folglich informiert worden sei und ihr Vorkaufsrecht wahrnehmen konnte. Wolfgang Gulbis erkundigte sich, ob die Stadt den Küstenwald nicht direkt von der Behörde, zum Schätzpreis, kaufen könne, doch der Beamte lehnte ab. Die Amtsleiterin telefonierte mit der Norddeutschen Grundstücksauktionen AG und erkundigte sich, was es kosten würde, wenn man den Küstenwald aus dem Katalog herausnähme? Sie bekam die Antwort, dass dies nicht möglich sei und die Kommune das auch gar nicht bezahlen könne.
Zu DDR-Zeiten gehörte der Küstenwald selbstverständlich der Kommune, genaugenommen handelte es sich, wie es seinerzeit hieß, um Volkseigentum in Rechtsträgerschaft des Rates der Stadt |82|Rerik. Doch mit der deutschen Einigung verloren die über vier Jahrzehnte geltenden Eigentumsverhältnisse ihre Gültigkeit, das wiedervereinigte Deutschland trat nicht die Rechtsnachfolge der DDR an, sondern die des Nationalsozialistischen Deutschland. Der Küstenwald, ein Großteil des damaligen Fischerdorfes Alt Gaarz und die gesamte, an den Ort grenzende Halbinsel Wustrow wurden so genanntes Reichseigentum. Auf der Halbinsel entstand eine Flakartillerieschule, im nahen Ort wurden Offiziersvillen errichtet und das Dorf wegen des slawischen Ursprungs von Alt Gaarz in Rerik umbenannt. Dieses Reichseigentum fiel mit der deutschen Einigung an die Bundesrepublik und ihre für bundeseigene Immobilien zuständige Behörde, das Bundesvermögensamt. Und fast genau fünfzehn Jahre nach dem offiziellen Einigungstermin, am 30. September 2005, gegen 13.00 Uhr, war es so weit, da wollte der Bund seinen Besitz zu Geld machen, da versteigerte sich die Bundesrepublik Deutschland selbst ein Stück Küstenwald. »Volkswirtschaftlich ist das völliger Irrsinn«, murmelte Wolfgang Gulbis, stand auf und ging gemeinsam mit der Amtsleiterin zurück in den Auktionssaal.
»Aufgerufen wird die Katalognummer 88!« In der gewohnt hastigen Art las der Auktionator vor, um welches Grundstück es sich handelte. »Gibt es Gebote?« Und plötzlich meldete sich dieser Mann, der gerade erst hereingekommen sein musste, und erhöhte das Mindestgebot von 12 500 um 500 Euro. Alle Augen richteten sich auf den etwas beleibten Herrn im dunklen Anzug. Bürgermeister Gulbis erhöhte seinerseits um 500 Euro, und schon gab auch dieser Herr ein neues Gebot ab. Und so ging das immer weiter, das Gebot lag schon bei 49 000 Euro, der Bürgermeister erhöhte auf 49 500, und dann blieb es plötzlich still im Saal.
»Noch Gebote?«, fragte der Auktionator und schaute hinüber zum Platz, auf dem eben noch der beleibte Herr in dem dunklen Anzug gesessen hatte. »Ach«, sagte der Auktionator etwas verwirrt, »der Herr ist ja weg.« Die Gemeinde Rerik bekam den Zuschlag für ihren eigenen Küstenwald. Der Bürgermeister ging nach vorn, um die Formalitäten abzuwickeln. Iris-Maria Mazewitsch stand auf und sah sich im Saal um. Wer war dieser Herr in dem |83|dunklen Anzug? Warum wollte er den Küstenwald ersteigern und was hatte er damit vor? Sie lief noch schnell zur Tür und schaute über den Parkplatz. Aber der Mann war schon verschwunden.