|257|Die Asche unseres Parteivorsitzenden

Erich Honecker wurde mit 17 Jahren zum Bonzen, und damit wurde er intellektuell borniert, emotional indifferent, affektiv starr, politisch machtbesessen, reaktiv egoman, anal aggressiv, latent sadistisch und organisch krank. Die seelische Verarmung dieses Klienten ist allerdings mittlerweile so erbärmlich intensiv geworden, dass ihm auch im Erleben seiner Krankheit das Wesentliche fehlt: die Fähigkeit zum Leiden.

 

Fazit des psychologischen Gutachtens von Reimer Hinrichs, niedergelassener Nervenarzt und Psychoanalytiker in Westberlin, über den todkranken Erich Honecker

Bereits am 8. November 1989, einen Tag vor dem Mauerfall, wurde gegen Erich Honecker ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Die Vorwürfe lauteten auf Amtsmissbrauch und Korruption. Der Generalstaatsanwalt der DDR ordnete die Verhaftung an, entließ den Verdächtigen allerdings bereits einen Tag später, wobei nicht ganz klar wurde, ob dem Staatsmann tatsächlich keine Verfehlungen nachgewiesen werden konnten oder ob sich das Verfahren wegen des Mauerfalls erledigt hatte. Die Staatsanwaltschaft sammelte Indizien, dass Honecker durch seinen Annäherungskurs an den Westen den Niedergang der DDR verursacht habe. Eine kompromisslose Abschottungspolitik gegenüber der Bundesrepublik war für die DDR immer von existenzieller Bedeutung. Niemand wusste das besser als Erich Honecker, der 1961 die Vorbereitungen für den Bau der Berliner Mauer geleitet hatte. Es wird wohl immer ein Rätsel bleiben, warum sich Honecker dem Westen öffnete, zugleich aber Reformen im eigenen Land verneinte. Der Generalstaatsanwalt der DDR fragte den Inhaftierten, warum er die innerdeutsche Grenze durchlässiger gestaltet und damit die DDR destabilisiert habe? »Die geschlossenen Grenzen zwischen der DDR und der BRD«, entgegnete Honecker, »waren nicht mehr zeitgemäß und brachten menschliche Erschwernisse. Zugleich wurden sie zunehmend zum Hindernis für die Normalisierung der Beziehungen.«

Das war allerdings nur der Auftakt der drei Jahre währenden Strafverfolgung eines unheilbar an Krebs erkrankten Mannes. Im |258|weiteren Verlauf übernahmen westdeutsche Justizbeamte die Regie. Jetzt lauteten die Vorwürfe auf den Tatverdacht des gemeinschaftlichen Totschlags an der innerdeutschen Grenze. Honeckers persönliches Konto, darauf ein Guthaben von 240 000 Ost-Mark, wurde gesperrt. Das Haus der Honeckers in der Waldsiedlung Wandlitz gehörte nicht der Familie, sie durften nicht dorthin zurückkehren. Erich Honecker, 77 Jahre alt, krank, mittellos und ohne ein Dach über dem Kopf, fand mit seiner Frau Margot Unterschlupf in der Wohnung des Pfarrers Uwe Holmer im brandenburgischen Lobetal. Ende Januar 1990 wurde erneut Haftbefehl erlassen, Honecker musste in Untersuchungshaft, wurde allerdings schon wenig später wegen seines schlechten Gesundheitszustandes entlassen. Danach erhoffte er sich Ruhe im Militärhospital der sowjetischen Streitkräfte im brandenburgischen Beelitz. Als ihn die deutsche Strafverfolgung auch dort erreichte, floh er am 13. März 1991 nach Moskau und bat um Asyl. Zunächst fand er dort Aufnahme, doch mit dem immer schneller voranschreitenden Zerfall des Sowjetreichs, in dem Maße, wie Michail Gorbatschow an Einfluss verlor und Boris Jelzin an Macht gewann, wurde Honecker den neuen Machthabern unbequem. Russland entwickelte eine geradezu paranoide Angst vor dem sowjetischen Erbe und wollte sich klar und deutlich von den Geschehnissen zu Sowjetzeiten distanzieren, ganz besonders vom Mauerbau und dem Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze. Erich Honecker war auch in Russland nicht mehr vor der deutschen Strafverfolgung sicher und floh in Moskau in die chilenische Botschaft. Die DDR hatte vor einigen Jahren Tausenden chilenischen Kommunisten Asyl gewährt, doch Honecker blieb das Asylgesuchen versagt. Er wurde nach Deutschland ausgeliefert und ins Haftkrankenhaus Berlin-Moabit eingewiesen.

Die Staatsanwaltschaft arbeitete mit Hochdruck daran, Erich Honecker den Prozess zu machen, doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Als die Krebserkrankung das letzte Stadium erreichte, entschied das Bundesverfassungsgericht, seine weitere Teilnahme an den Verhandlungen wäre ein »Verstoß gegen die Menschenwürde«.

|259|Im Januar 1993, Erich Honecker war bereits auf ständige Hilfe angewiesen, durfte er gemeinsam mit seiner Frau nach Chile ausreisen. Das Ehepaar lebte bei der Tochter in Santiago. Das Verfahren wurde auch in seiner Abwesenheit noch einige Monate fortgesetzt und schließlich im April 1993 eingestellt. Am 29. Mai 1994 starb Erich Honecker. Er wurde auf dem Zentralfriedhof in Santiago de Chile aufgebahrt und eingeäschert. Seine Frau Margot hat die Urne, so wird berichtet, mit nach Hause, in ihre Wohnung in Santiago genommen, und dort steht sie noch heute.

Abbau Ost
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