|268|Eine Meldung und ihre Geschichte

Es gibt keinen Zweifel darüber, dass Moskau bis Oktober 1990, bis zum Tag der Vereinigung Deutschlands, immer noch darauf hoffte, die Bedingungen dieser Vereinigung vorschreiben zu können. Aber von Anbeginn an verlief alles etwas anders als geplant: Aufgrund eines bloßen Missverständnisses wurde die Mauer zwischen Ost und West einen Tag früher geöffnet als vorgesehen. Deshalb verlor man die Kontrolle über den dadurch ausgelösten Ausreisestrom. Millionen drängten durch dieses Loch ins Freie und begruben damit ein für allemal den Mythos von der DDR als einem separaten Staat.

 

Wladimir Bukowski, sowjetischer Dissident, ›Abrechnung mit Moskau. Das sowjetische Unrechtsregime und die Schuld des Westens‹, Bergisch-Gladbach 1996

Im Nachhinein stellte sich heraus, die neuen Reisebestimmungen sollten nicht am 9. November, sondern erst am 10. November 1989, um 4.00 Uhr morgens in Kraft treten. Aber was hätte das schon geändert. Für die Anerkennung einer zweiten deutschen Staatsbürgerschaft war es zu spät. DDR-Bürger waren laut Grundgesetz Bundesbürger und mussten auch so behandelt werden, sobald sie den Westen Deutschlands betraten. Andererseits wären die Deutschen um diese unvergessliche Novembernacht gebracht worden, und der Welt wäre verborgen geblieben, zu welchen emotionalen Ausbrüchen sie fähig sind.

Seit jener Nacht hält sich die Legende, Günter Schabowski habe auf der Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 durch missverständliche Äußerungen die sofortige Grenzöffnung veranlasst, woraufhin sich aufgeregte Menschenmassen an den Grenzübergängen einfanden, die ratlosen Grenzposten überrumpelten und in den Westteil Berlins drängten. Tatsächlich folgten die Ereignisse der Dramaturgie des Fernsehens. Wie schon so häufig in den zurückliegenden Monaten hatte sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen auch an jenem 9. November über journalistische Objektivität und Distanz hinweggesetzt. Dazu kam, dass die verantwortlichen Politiker offenbar so an den Anblick der Mauer gewöhnt waren, dass niemandem in den Sinn kam, dass ein Gesetz, das jedem |269|Bürger die Ausreise garantierte, ein Grenzregime wie die Berliner Mauer überflüssig machte. Aus journalistischer Sicht war die Schlagzeile nicht Reisefreiheit, sondern das Ende von Mauerschützen und Todesstreifen, der Fall der Mauer. Nicht nur die SED-Funktionäre, auch der damalige Westberliner Bürgermeister Walter Momper hatte die Auswirkungen eines Reisefreiheitsgesetzes nicht überblickt. Noch am Vortag führten Günter Schabowski und Walter Momper eine Unterredung, an dessen Ende der SED-Funktionär, wie Momper später bemerkte, ihm die Pläne zum neuen Reisegesetz »ziemlich unvermittelt« eröffnete. »Übrigens«, sagte Schabowski, »wir werden Reisefreiheit geben.« Der erstaunte Momper wollte wissen, was er damit meine? »Richtige Reisefreiheit«, versicherte Schabowski, »jeder DDR-Bürger kann reisen, wohin er will. Er kann die DDR auch auf Dauer verlassen.« Die Worte waren wahrlich dazu angetan, dass sich Walter Momper in der Nacht vom 8. zum 9. November schlaflos im Bett wälzte.

Aber dann war es auch schon 18.00 Uhr. Die Pressekonferenz. Günter Schabowski und zwei Zettel, die ihm Egon Krenz noch kurz vor der Pressekonferenz zugesteckt hatte: »Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns.« Und dann, auf den Zwischenruf eines Journalisten, das historische Wörtchen »sofort«. Dieses eher harmlos klingende Adverb, so ist es im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verhaftet, brachte die Mauer zum Einsturz.

»Deshalb haben wir uns dazu entschlossen«, sagte Günter Schabowski vor den Journalisten, »heute, äh, eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, äh, über Grenzübergänge der DDR, äh, auszureisen.«

Dann kam der Zwischenruf aus dem Auditorium. »Wann, ab sofort?«

Günter Schabowski blätterte in seinen Papieren. »Das trifft nach meiner Kenntnis«, sagte er, während er auf seine Unterlagen blickte, »ist das sofort, unverzüglich.«

Nicht ein DDR-Bürger wäre nach Schabowskis Äußerungen auf die Idee gekommen, zu den Grenzübergängen zu eilen, um zu sehen, ob er tatsächlich ungehindert in den Westteil der Stadt gehen konnte. Die allermeisten DDR-Bürger hatten kein Visum. Es |270|war nach 18.00 Uhr, die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen bei den Kreisämtern der Volkspolizei und die Abteilungen Innere Angelegenheiten, wo die DDR-Bürger einen Reisepass beantragen konnten, hatten geschlossen. Und diejenigen, die bereits über einen Reisepass verfügten, hatten keine Eile. Alle anderen aber, die endlich den Westen mit eigenen Augen sehen wollten, würden sich schon früh am nächsten Tag, am besten noch in der Nacht, vor den Kreisämtern anstellen, damit sie zu den ersten gehörten, die einen Reisepass beantragen konnten.

Die ›Tagesschau‹ um 20.00 Uhr beginnt mit der Schlagzeile: »DDR öffnet Grenze.« In einem der Berichte heißt es, »die Mauer soll über Nacht durchlässig werden«. Daraufhin eilen Menschen zu den Grenzübergängen und wollen selbst in Augenschein nehmen, was sie soeben in den Nachrichten gehört haben. Gegen 21.00 Uhr haben sich am Grenzübergang Bornholmer Straße etwa 1 000 Menschen versammelt und konfrontieren die Grenzposten mit der aktuellen Nachrichtenlage. Das Wachpersonal weiß von nichts. Jetzt fordern die Menschen lautstark die Öffnung des Übergangs. Die Situation droht zu eskalieren. Am Telefon schildern die Grenzposten der zuständigen Stasi-Hauptabteilung eindringlich ihre Lage. Daraufhin kommt die Anweisung, all jene, »die am aufsässigsten sind und die provokativ in Erscheinung treten« über die Grenze zu lassen. Zuvor werden ihre Personalausweise durch einen speziellen Vermerk gekennzeichnet, aufgrund dessen ihnen die Rückkehr in die DDR verwehrt werden soll.

Die ›Tagesthemen‹ moderiert Hanns-Joachim Friedrichs. »Guten Abend, meine Damen und Herren«, begrüßt er die Zuschauer um 22.42 Uhr. »Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab, aber heute Abend darf man einen riskieren: Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.« Eine Live-Schaltung zum Grenzübergang Invalidenstraße zeigt dann auch tatsächlich Menschenansammlungen auf beiden Seiten des Übergangs, doch das Tor ist wie üblich geschlossen. »Hier«, rechtfertigt sich der Reporter, »haben die Grenzpolizisten offenbar diese Weisung noch |271|nicht bekommen, oder sie haben sie noch nicht verstanden.« Die Ventillösung, besonders provokativ in Erscheinung tretende Grenzbesucher in den Westen abzuschieben, dient jetzt als Beleg für die Grenzöffnung. »An sehr vielen Grenzübergängen, nicht nur in der Bornholmer Straße – wir haben es auch gehört von der Sonnenallee und vom Ausländerübergang Checkpoint Charlie – ist es offenbar bereits möglich, völlig komplikationslos nach West-Berlin zu kommen.«

Unmittelbar nach der Sendung versammeln sich allein am Grenzübergang Bornholmer Straße mindestens 20 000 Menschen. Auf östlicher Seite warten DDR-Bürger, auf westlicher Seite drängen sich Schaulustige und Kamerateams mit aufgeblendeten Scheinwerfern. »Macht auf«, kommt es übers Telefon aus der Stasi-Zentrale, »euch bleibt gar nichts anderes übrig.« Oberstleutnant Edwin Görlitz legt den Hörer auf und sagt gegen 23.30 Uhr: »Wir fluten jetzt.«

Am Grenzübergang Invalidenstraße herrscht zu diesem Zeitpunkt immer noch Chaos. Überall parken Autos. Ankommende halten, wo noch Platz ist, steigen aus und laufen zum Übergang. Auf Westberliner Seite ragt der Richtfunksendemast des Senders Freies Berlin aus der Menschenansammlung. Auf Ostberliner Seite haben die DDR-Bürger eine Schlange gebildet und warten, bis sie an der Reihe sind. Die Grenzposten drücken ihnen einen Stempel in den Ausweis. »Was denn«, sagt einer, »das glaub ich nicht«. Einige müssen regelrecht weitergeschoben werden. Sie haben Angst, dass sie nicht wieder zurückkönnen. »Ich soll jetzt rüber. Aber wohin? Ich habe ja keinen Pfennig in der Tasche.« Dann brüllt jemand auf der Westberliner Seite: »Wir wollen rein!« Zwischen den Massen ist Bürgermeister Walter Momper zu erkennen. Blitzlichter, Mikrofone, Kameras. Und dann bewegen sich die Menschen in Westberlin auf die Absperrungen zu, Richtung Ostberlin. Einige Grenzsoldaten versuchen noch, Schlagbaum und Tore geschlossen zu halten, doch gegen 1.00 Uhr fangen die Ersten an zu rennen, und auf Ostberliner Seite ist nicht mehr zu unterscheiden, wer kommt aus dem Osten der Stadt, wer aus dem Westen.

|272|Günter Schabowski kommt an diesem Abend erst spät nach Hause. Die ZK-Tagung hatte sich noch hingezogen. Von der Grenzöffnung erfährt er erst durch einen Anruf. Daraufhin macht er sich auf den Weg zum Grenzübergang. Ein Grenzoffizier soll ihn erkannt und gemeldet haben, dass seine Weisungen ordnungsgemäß ausgeführt worden seien.

Die Macher des Neuen Forums arbeiten in Ostberlin gerade an einer Rede, die dem Landessprecherrat vorgetragen werden soll. Es geht darum, die DDR zu verändern. Plötzlich stürzt jemand zur Tür herein und ruft aufgeregt: »Die Grenze ist offen!«

Jo Brauer, der die Nachrichten in der ›Tagesschau‹ am 9. November gesprochen hatte, konnte während der Sendung »zwar die Contenance« bewahren, aber zu Hause hat er dann »die ganze Nacht lang vor dem Fernseher gehockt und geheult«.

Abbau Ost
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