Das erste Gebot
Nach westdeutscher Geschichtsdarstellung stellten die evangelische und die katholische Kirche das Taufbecken für die DDR-Opposition. Dies ist inzwischen einer der historischen Grundsätze, die kaum noch kritisch hinterfragt werden. Wohin auch sollte sich eine vermeintliche Oppositionsbewegung in der DDR flüchten, wenn nicht unter das Dach der Kirche, in die Diaspora. Tatsächlich gehören Kirchenmitglieder bis heute zu den heftigsten Kritikern der DDR. Das klerikale Selbstverständnis geht so weit, dass Kirche und Oppositionsbewegung gleichgesetzt werden und, ließe man sich tatsächlich auf diese Argumentation ein, die evangelische und die katholische Kirche den Zusammenbruch des DDR-Regimes wenn nicht herbeigeführt, so doch maßgeblich vorangetrieben hatten. Seit dem Urchristentum hatten die Staatskirchen keine Erfahrungen mit der Oppositionsrolle. Der Klerus schwamm stets wie ein Korken auf dem Meer der Weltgeschichte. Weltreiche entstanden und gingen unter, Diktatoren erbaten den Segen der Kirchenfürsten, das Blut floss in Strömen, allein die Staatskirchen überdauerten alle politischen Wirrungen, mächtiger, reicher und unangefochtener denn je. Dabei hatte sich der Klerus im Laufe der Jahrhunderte noch mit jedem Regime arrangiert, sich gegenüber jeder gesellschaftspolitischen Konstellation duldsam gezeigt, solange sie nicht den eigenen Stand gefährdete.
Doch mit den Kommunisten kamen Machthaber, die jegliche Religiosität ächteten und sich offen zum Atheismus bekannten. Sie drängten den Einflussbereich der Kirchen zurück und vollzogen eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche. Der ostdeutsche Fiskus kassierte nicht länger Kirchensteuern. Kirchengebäude|246|, Pfarrhäuser und andere Besitzungen verfielen zusehends, und ohne die finanziellen Zuwendungen aus den reichen westdeutschen Kirchengemeinden wäre der Verfall noch sehr viel rascher vorangeschritten. Gläubige standen von Kindesbeinen an im Zwiespalt mit einem Staat, der sie schon in staatlichen Kindergärten umerziehen wollte, später ihre Mitgliedschaft bei den Jungpionieren und der Freien Deutschen Jugend einforderte, der sie ein weiteres Mal ins Abseits stellte, wenn sie an der Konfirmation und nicht an der Jugendweihe teilnahmen, und der ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten einschränkte. Diese gesellschaftliche Sonderrolle vertrug sich gut mit dem christlichen Selbstverständnis. Die Gläubigen zelebrierten ihr Leben in der Diaspora. Die Kirchengemeinden boten ihren Mitgliedern ein vergleichsweise fortschrittliches politisches Forum und engagierten sich für ein kulturvolles, von ideologischer Verbrämung befreites Menschenbild. Auch wenn sich dort niemand ernsthaft mit der Wiedervereinigung Deutschlands beschäftigte, so diskutierten kirchliche Gruppen über »die führende Rolle der Arbeiterklasse« und unterzogen das gesamte theoretische Fundament der angeblich »entwickelten sozialistischen Gesellschaft« einer kritischen Bestandsaufnahme. Dennoch hatten die Kirchenoberen große Bauchschmerzen mit jeder Form von Opposition, die über kircheninterne Diskussionsforen hinausging. Sie predigten Mäßigung im Interesse des Burgfriedens zwischen Staat und Kirche und unterbanden spontane Aktionen. Im ersten Nachwendejahrzehnt war immer deutlicher geworden, dass es in beiden Kirchen ebenso viele Spitzel gab wie in anderen, für die Staatssicherheit interessanten Gesellschaftskreisen. Auch die Kirche konnte einer Opposition, die sich erst herausbilden und allmählich wachsen musste, keine Sicherheit bieten. Nicht endgültig beantwortet ist die Frage, ob die Staatssicherheit diese besondere Funktion der Kirchen, den Ausreisewilligen eine letzte Zuflucht zu gewähren, nicht sogar ausdrücklich gefördert hatte.