Wilde Kreaturen
Mit dem Gongschlag der deutschen Einigung holten in Westdeutschland 35 000 Beamte ihre Koffer und Reisetaschen unter den Betten hervor. Sie packten eilig ein paar Sachen zusammen und liefen zum Auto. Es ist verbürgt, dass einige Autos, besonders die jüngerer Beamter, nicht sofort ansprangen. Aber irgendwie bekamen sie die alten Kisten in Gang und holten das Letzte aus ihnen heraus. Die Fahrt ging über die holprigen Straßen des Beitrittsgebiets. Kreuzungen und Ortschaften waren schlecht ausgeschildert. Ständige Staus und Abgasfahnen aus knatternden Zweitaktmotoren stellten die Geduld der Staatsdiener auf eine harte Probe. Aber es galt, keine Zeit zu verlieren. Letztlich waren es zumeist geografische Vorteile, die das rechtzeitige Eintreffen begünstigten. In Mecklenburg-Vorpommern hatten die Beamten aus Schleswig-Holstein einen kleinen Vorsprung, in Sachsen-Anhalt lag eher Niedersachsen ein wenig vorn, und um die Posten in den neu zu schaffenden Ministerialbürokratien Thüringens und Sachsens lieferten sich Staatsdiener aus den süddeutschen Ländern ein wildes Rennen.
Die Verwaltungsfachkräfte richteten sich notdürftig an den wackeligen DDR-Schreibtischen ein und erwarteten ungeduldig das Eintreffen erster Personalcomputer. Derweil ließen sie sich ihren Einsatz fürstlich honorieren, kassierten die sogenannte Buschzulage und Trennungsgeld, profitierten von Steuervergünstigungen und klagten ansonsten über schnell steigende Mieten, schlechten |150|Wohnkomfort und das miserable Freizeitangebot. Nur die Aussicht auf etwas Größeres als Trennungsgeld, Buschzulage und Steuervergünstigungen ließ sie all die Entbehrungen ertragen. Die meisten Beamten der ersten Stunde konnten ihrer trägen Staatsdienerkarriere einen gehörigen Schub verleihen und in Besoldungsgruppen vorrücken, die ihnen zu Hause im Westen lange Zeit, wenn nicht gänzlich verwehrt geblieben wären. Es waren diese, die Gunst der Stunde nutzenden Beamten, die nahezu alle Führungsposten in den fünf neuen Ministerialbürokratien besetzten. Sie forcierten die Einstellung weiteren, aus dem Westen kommenden Personals, beschäftigten die Angestellten der DDR-Verwaltungen mit den einfacheren Arbeiten, verordneten ihnen Weiterbildungen und Qualifizierungen und traktierten sie mit Stasiüberprüfungen. Diese Beamten unterwiesen die gerade gewählten, noch unsicheren ostdeutschen Politiker in westdeutschem Verwaltungsrecht und warfen einen bunten Patchwork-Föderalismus über die fünf neuen Verwaltungsgebiete. Kamen die für das Schulwesen zuständigen Beamten aus Bayern, bekam das Bundesland ein Schulsystem nach bayerischem Vorbild, kamen die für Bauen und Wohnen zuständigen Verwaltungsbeamten aus Nordrhein-Westfalen, galt nun eine den nordrhein-westfälischen Baubestimmungen nachempfundene Landesbauordnung, hatte das Landwirtschaftsministerium eher Beamte aus Schleswig-Holstein angestellt, galten für die Landwirte jetzt im Wesentlichen die in Schleswig-Holstein üblichen Richtlinien. Mitunter entstanden bei den Gesetzgebungsverfahren auch Zwischenlösungen, bei denen die wahre Herkunft der Gesetzestexte ein wenig kaschiert wurde, sozusagen Arbeitsgruppenkompromisse von Beamten aus unterschiedlichen Herkunftsgebieten. Insgesamt aber machte die neue Verwaltungselite genau das, was sie gelernt hatte. Auch wenn die Bezeichnung neue Bundesländer das suggerierte, so entstand nichts Neues, sondern eine fantasielose Kopie westdeutscher Verwaltungsstrukturen.
Und während die öffentlichen Verwaltungen wuchsen und gediehen, schrumpfte die Wirtschaft. In der Hektik war ganz übersehen worden, dass die Gründe für den Niedergang der DDR in |151|wirtschaftlichen Problemen lagen und nicht im Fehlen der westdeutschen Bürokratie.