Transferleistungen
Der Begriff »Mezzogiorno« ist für den Osten Deutschlands ein Kompliment, das dieser nicht verdient. Denn der Süden Italiens liegt bei einem Leistungsbilanzdefizit von 12,5 Prozent, der deutsche Osten hingegen kommt auf sagenhafte 45 Prozent.
Thomas Betz, freier Publizist und Consultant in Berlin, in: ›Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit – Eine Zwischenbilanz‹, Berlin 2005
Inzwischen gilt es als ausgemacht, dass jährlich etwa vier Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes vom Westen in den Osten transferiert werden. Die Transferrate liegt damit deutlich über den Wachstumsraten und zehrt von der in Westdeutschland noch vorhandenen Substanz. Solche statistischen Erhebungen setzen immer voraus, dass geografisch umrissene Regionen einer Volkswirtschaft isoliert betrachtet und dann miteinander verglichen werden. Nach der Logik dieser Berechnungen wäre ein vom Osten in den Westen umziehender Arbeitsloser, der auch im alten Bundesgebiet keine Beschäftigung findet, ein Ost-West-Sozialtransfer. Neben diesen allen Bürgern gleichermaßen zustehenden Sozialleistungen fließt ein großer Teil der Transfers in die Unterhaltung eines aufgeblähten Verwaltungsapparates. Dagegen beliefen sich die Zahlungen für den Bau von Autobahnen, Bundesstraßen, Schienenwegen und Wasserstraßen, von deren Aufträgen vor allem im Westen beheimatete Firmen profitierten, in den ersten zwölf Jahren der Einigung auf insgesamt 53 Milliarden |140|Euro, nur rund vier Prozent der theoretischen West-Ost-Transfers.
Letztlich sagt das alles nicht viel. Solche Gegenüberstellungen reduzieren die ganze Ambivalenz wirtschaftlicher Beziehungen auf eine statistische Momentaufnahme. Geschichtliche Aspekte, Wanderungsbewegungen, staatliche Subventionen und die Funktion von Absatzmärkten werden dabei bewusst ausgeklammert. Es ist nicht bekannt, dass derlei Gegenüberstellungen einer Nation außer Ressentiments jemals etwas gebracht hätten. Die wirtschaftlich stärkeren Regionen profitieren nicht nur von der Schwäche der anderen, durch ihre Vormachtstellung verschärfen sie die Zustände, die sie öffentlich beklagen. In den eigenen Staatsgrenzen bleiben derlei Betrachtungen ein Nullsummenspiel. Will eine Nation ihren Wohlstand mehren, dann bringen sie Verteilungskämpfe nicht weiter, dann muss sie mit anderen Nationen in Wettbewerb treten.