Die neue politische Klasse

»Man ist übrigens mit den Kommunisten nach 1990 schlimmer umgegangen als am Beginn der Bundesrepublik mit den ehemaligen Nazis. Wenn wir mit den Kommunisten etwas toleranter umgegangen wären, wäre das Desaster, wie wir es heute in den neuen Ländern erleben, möglicherweise etwas glimpflicher abgelaufen.«

 

Altbundeskanzler Helmut Schmidt in einem Interview in ›Der Spiegel‹, Nr. 1/2006

Die Karrieren der neuen politischen Klasse begannen in jenem Sommer und Herbst des Wendejahres 1989. Einige der neuen Parteisoldaten stießen erst etwas später hinzu. Die neuen Akteure besaßen keinerlei politische Erfahrung, sie konnten sich in keiner Partei oder Oppositionsbewegung auf ihre neue Funktion vorbereiten, sie kamen aus Kirchenämtern, aus akademischen Berufen, aus der Ingenieurtechnik und der Medizin, angezogen von einem plötzlichen Machtvakuum. Wenn sie etwas einte, dann war es die kritische Sicht auf die Verhältnisse in der DDR, und da dies für nahezu alle DDR-Bürger zutraf, durfte ihr beruflicher Werdegang keine allzu große Systemnähe aufweisen. Wer es zu DDR-Zeiten beruflich zu etwas gebracht hatte, besaß schon fast zwangsläufig den Makel allzu großer Systemnähe und kam für ein politisches Amt kaum infrage. Die Folge war eine fast zwanghafte Hysterie, in der sich niemand zu seiner sozialen Herkunft bekennen konnte. Die eigene Identität, die alle Ostdeutschen zweifellos besaßen, und zwar unabhängig davon, ob sie Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei waren, für das Ministerium für Staatssicherheit arbeiteten, ob sie ihre politische Heimat in Kirchenkreisen fanden oder sich grundsätzlich von Politik fernhielten – dieses besondere, |171|aus den gesellschaftlichen Verhältnissen erwachsende Zugehörigkeitsgefühl wurde verleugnet und mit Füßen getreten. Verachtung und Hass auf das alte System, auf die eigenen Wurzeln ließen die neuen Akteure nicht etwa suspekt erscheinen, sondern prädestinierten sie geradezu für ein politisches Amt. Es war die Stunde der Idealisten und Subversiven, das rief junge Menschen auf den Plan, die noch ganz am Anfang ihrer Karriere standen, und es kamen ehrgeizige Persönlichkeiten zu den Wahlversammlungen, die es in der DDR nicht sonderlich weit gebracht hatten und die Ursache nicht bei sich selbst, sondern im System suchten. Wirklich überzeugen konnten die wenigsten. Doch in der Bevölkerung gab es damals ein starkes Bedürfnis nach neuen, unbelasteten Gesichtern. Mangelnde politische Erfahrung und eine gewisse Unbeholfenheit mussten nicht unbedingt von Nachteil sein, schließlich stand man vor einem Neuanfang, alle mussten lernen. Doch diese spannende Zeit des Aufbruchs und des demokratischen Wandels war schon nach zwei, drei Monaten wieder vorbei. Bereits ab Februar 1990, nachdem Bundeskanzler Helmut Kohl in der DDR das konservative Parteienbündnis »Allianz für Deutschland« ausrief, bestimmten die D-Mark-Umstellung und der Beitritt das politische Tagesgeschäft. Westdeutschland wollte einen bankrotten Laden übernehmen und keine von ehrgeizigen Vorstellungen besessene, nach neuen Wegen suchende Gesellschaft, in der sich bereits eigenständige, schwer beherrschbare Entwicklungen etabliert hatten. Für das Beitrittsszenario hätte es eines entschlossenen und starken ostdeutschen Interessenausgleichs bedurft. Das aber konnte die neue politische Klasse nicht leisten. Sie lehnte zumindest in der entscheidenden Anfangsphase alles aus DDR-Zeiten überkommene grundsätzlich ab, und genau deshalb waren diese Politiker auch gewählt worden. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die alte SED-Machtelite die Interessen der DDR-Bevölkerung besser vertreten hätte als die neue politische Klasse, deren Werdegang der kohlschen Einigungsdramaturgie folgte.

Nach den Volkskammerwahlen im März 1990 gingen die Abgeordneten augenblicklich zur Abwicklungsphase über und lösten |172|den Staat auf, dessen oberste Vertreter sie waren. Dabei waren sie, als politische Neulinge, ganz und gar auf westdeutsche Unterstützung angewiesen. Die 400 gerade gewählten Volkskammerabgeordneten lernten nicht nur das politische Tagesgeschäft, sie orientierten sich dabei an einem Rechtssystem, das sich von allem, was sie in ihrem bisherigen Leben kennengelernt hatten, vollkommen unterschied. Im Unterschied zu ihren Vorgängern, die sich eng an Moskau orientierten, war die neue politische Klasse ferngesteuert aus Bonn. Am 4. April 1990 konstituierte sich die Volkskammer, und schon am 18. Mai 1990 verabschiedete die Mehrheit der Abgeordneten den Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Eine Volkskammer voller Azubis traf nach nur sechswöchiger Ausbildung die bedeutsamste Entscheidung im gesamten Einigungsprozess.

Was in der letzten Volkskammer begonnen hatte, setzte sich nach Auflösung der Volkskammer in den neuen Bundesländern und den Kommunen fort: Politische Neulinge studierten das westdeutsche Rechtssystem und ließen sich dabei von westdeutschen Beamten unterrichten. In den ersten Jahren nach der Wende durchlebte die neue politische Klasse einen Selbstreinigungsprozess, Idealisten gingen von allein, Subversive wurden enttarnt, doch ansonsten sind sie immer unter sich geblieben. Fest eingewoben in einen Kokon westdeutscher Netzwerke beschränkt sich ihr berufliches Interesse an den ehemaligen DDR-Bürgern auf deren Funktion als Wähler.

Abbau Ost
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