105.

FREITAG, 12. NOVEMBER

Die Frauen saßen an dem kleinen Tisch und spielten Rommé. Zwischen den Aschenbechern, den Styroporbechern, den zahlreichen Dosen Pepsi light und Mountain Dew light, den Tüten mit den Schweineschwartenchips und den Paprikachips war kaum noch Platz für die Karten.

Als die kleine junge Frau in dem viel zu großen, blauen Parka den Raum betrat, stand Dottie Doucette auf. Dottie war furchtbar dünn. Sie sah älter als vierzig aus, doch ihre Freunde sagten, ihre Augen würden wieder strahlen. Zugegeben, nur ein bisschen, aber immerhin.

Als Lucy ihre Mutter umarmte, hatte Dottie das Gefühl zu zerbrechen.

Lucy hätte ihre Mutter gerne nach George Archer gefragt. Sie hatte mit ein paar Frauen gesprochen, die ihre Mutter als junge Frau gekannt hatten, und erfahren, dass Dorothy Doucette ein paar Mal mit George Archer ausgegangen war. Vermutlich hatte der Mann damals ein Auge auf Lucy geworfen. Lucy wusste, dass ihre Mutter sich wegen vieler Dinge Vorwürfe machte. Es war nicht nötig, sie noch mehr zu belasten.

Dottie ließ ihre Tochter los, wischte sich über die Augen und langte in ihre Tasche. Sie zeigte Lucy ihren AA-Chip. Sie war seit sechs Monaten trocken.

»Ich bin stolz auf dich, Mama.«

Dottie drehte sich zu den anderen Frauen am Tisch um.

»Das ist Lucy, mein kleines Mädchen.«

Die Frauen begrüßten sie herzlich, und Lucy ließ es sich gefallen. Sie hatte in einer Pension in der Stadt ein Zimmer genommen. Vielleicht würde sie einen Monat oder so bleiben. Sie brauchte das Zimmer nicht zu bezahlen und half dafür als Zimmermädchen aus. In dem Augenblick, als sie aus dem Bus gestiegen war, wusste sie, dass sie nicht für immer bleiben würde, und auch, dass sie nie wirklich fortgegangen war.

Ihre Mutter streifte den abgetragenen Pullover über, der über der Lehne des Klappstuhls hing. Lucy erkannte ihn wieder. Sie hatte den Pullover vor vielen Jahren bei JC Penney’s gestohlen. Der Pullover war völlig zerschlissen. Ihre Mutter brauchte einen neuen. Lucy nahm sich fest vor, ihn dieses Mal zu bezahlen.

»Gehen wir spazieren?«, fragte Dottie.

»Klar, Mama.«

Im Eingangsbereich half Lucy ihrer Mutter, die Stiefel anzuziehen. Als Lucy die Schleife band, hob sie den Blick. Ihre Mutter lächelte.

»Was ist?«, fragte Lucy.

»Das habe ich auch immer für dich gemacht, als du klein warst. Es ist schon seltsam, wie sich der Kreis schließt.«

Ja, dachte Lucy. Das Leben ist irre komisch.

Sie gingen Arm in Arm den Weg hinunter zum Stadtpark. Es wurde kühler. Lucy zog den Pullover enger um den Hals ihrer Mutter.

Der Winter nahte, aber das war okay. Im Grunde, dachte Lucy Doucette, trägt man die Sonne im Herzen. Und jetzt, da sie sich an alles erinnerte, konnte sie anfangen, alles zu vergessen.

Echo des Blutes: Thriller
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