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DIENSTAG, 26. OKTOBER
Lucinda Doucette schaute auf den Badezimmerboden und dachte: Ich lebe in einer Welt voller Schweine.
Das Le Jardin, ein modernes Hotel mit dreihundert Zimmern in der Nähe Siebzehnter und Sansom im Herzen der Innenstadt, war ein gigantisches graues Gebäude mit eckigen schwarzen Geländern aus Schmiedeeisen vor den siebzig Balkonen. Das Hotel galt als Beispiel moderner europäischer Architektur an der Ecke des Stadtteils, der nun als Philadelphias neues Französisches Viertel angesehen wurde. Es wurde von einem internationalen belgischen Unternehmen geleitet, das auch Immobilien in Paris, Monaco und London verwaltete. Das Le Jardin war 2005 komplett renoviert worden. Mit den auf Hochglanz polierten Wandverkleidungen aus Mahagoni, den Mattglas-Türen und den luxuriösen Annehmlichkeiten der französischen Lebensart zog es vor allem Manager großer Firmen und vermögende Touristen an.
Neben den Hotelzimmern gab es auch sechs Suiten auf der vorletzten Etage, alle mit Blick auf die Stadt, und eine Präsidentensuite im obersten Stockwerk mit einer atemberaubenden Aussicht auf den Delaware River und weit darüber hinaus.
Für Lucinda Doucette war, wie für das gesamte Hauspersonal, das, was sie zu sehen bekam, nicht so malerisch, aber manchmal in gewisser Hinsicht ebenfalls atemberaubend.
Wie für alle Hotels war auch für das Le Jardin die Anzahl seiner Sterne – bei Orbitz, Hotels.com, Expedia, Hotwire, Priceline – von allergrößter Bedeutung.
Die Hotelleitung schaute sich zwar auf den Internetseiten gerne die Kommentare und Kritiken an, aber es gab nur zwei Rankings, die wirklich wichtig waren: Mobil und AAA.
Mobil testete die Hotels alle paar Jahre. Der amerikanische Automobilklub allerdings war viel strenger – einige würden sogar sagen, knauserig – mit der Vergabe seiner Sterne. Daher war der AAA von allen Organisationen, von deren Einschätzung der Unterkunft, Gastronomie und Lage der Erfolg aller Hotels abhing, am meisten gefürchtet und respektiert. Wenn man den amerikanischen Automobilklub enttäuschte, spürte man innerhalb weniger Monate einen Rückgang an Gästen.
Bei der Bewertung ganz oben rangierten der Komfort, das Personal, der Service und die Sauberkeit.
Das Le Jardin wurde zu Recht als ein Hotel der gehobenen Klasse angesehen und bekam immer vier Sterne verliehen. Es verstand sich von selbst, dass die Hotelleitung darauf bedacht war, diese auch zu behalten.
Lucy Doucette arbeitete schon seit über einem Jahr als Zimmermädchen im Le Jardin. Sie hatte kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag dort angefangen. Anfangs loggte sie sich ständig in die verschiedenen Reiseportale ein und las die Gästebewertungen und die Kommentare, vor allem was die Sauberkeit betraf. Natürlich hätte sie von der Hausdame schon etwas gehört, wenn sie ihren Job nicht anständig machte. Sie war eine kühle, rationale Frau namens Audrey Balcombe, die – wie es hieß – an der Université d’Avignon ihren Master in Kommunikationswissenschaft gemacht hatte. Zur Hotelfachfrau soll sie bei Kurt Wachtveitl, dem legendären ehemaligen Direktor des Mandarin Oriental in Bangkok, ausgebildet worden sein.
Lucy war stolz auf ihre Arbeit und wünschte sich, von den Gästen selbst zu hören, ob sie zufrieden oder unzufrieden waren. Ein Kritiker auf tripadvisor.com hatte dem Le Jardin für die Sauberkeit nur einen Stern gegeben (für null Sterne gab es keine Option, sonst hätte dieser Kritiker sie bestimmt gewählt). Er ging sogar so weit, das Hotel hinsichtlich der Sauberkeit mit einer Umkleidekabine im YMCA in der Stadtmitte zu vergleichen. Der Kritiker beklagte sich vor allem, er habe, als er nach dem Einchecken das Badezimmer betrat, feststellen müssen, dass auf der Toilette nicht abgezogen worden war. In Lucys Augen war der Typ, der diese Kritik geschrieben und ins Netz gestellt hatte, ein Scheißkerl und die Toilette garantiert nicht schmutzig gewesen. Die Gefahr, dass so etwas jemals passierte, tendierte praktisch gegen null. Dennoch arbeitete Lucy in den nächsten zwei Wochen mit doppelter Energie auf ihrer Etage, der zwölften, und überprüfte die Toiletten zwei Mal, ehe sie das Zimmer für die neuen Gäste freigab.
Meistens war der hohe Anspruch, den sie an ihre Arbeit stellte, für sie die größte Belohnung – Gott wusste, dass es die Bezahlung nicht war –, aber manchmal – nicht oft – gab es auch unerwartet ein Trinkgeld.
Ungefähr vor fünf Monaten hatte ein Gast, ein älterer, vornehmer Herr, der sechs Tage geblieben war, nach dem Auschecken einen Hundert-Dollar-Schein mit einem Zettel unters Kopfkissen gelegt, auf dem stand: Für das Mädchen mit dem gehetzten Blick – gute Arbeit.
Gehetzter Blick, musste Lucy damals immer denken. Anschließend trug sie wochenlang auf dem Weg von und zur Arbeit eine Sonnenbrille.
Im Augenblick hätte Lucy gerne den Mann in Zimmer 1212 erwürgt. Es war schier unglaublich: verschütteter Kaffee auf dem Stuhl, befleckte Kissenbezüge, zerbrochene Bierflaschen in der Badewanne, ein umgekipptes Frühstückstablett, ein mit Haaren verstopftes Waschbecken, Tuben mit Shampoo und Haarspülung unter dem Bett, wo auch zwei Garnituren schmutzige Unterwäsche lagen; alle Handtücher tropfnass und auf dem Boden. Lucy war einiges gewohnt, aber so etwas hatte sie noch nicht erlebt. In einem der Handtücher klebte ein großer Klumpen Erbrochenes.
Mein Gott, was für ein Schwein!
Lucy musste sich ranhalten. Vor der Mittagspause musste sie noch vier Zimmer sauber machen und hatte dafür knapp zwei Stunden Zeit. Die Hausdame wusste ganz genau, wann sie mit einem Zimmer begann. Wenn Lucy länger als vierzig Minuten brauchte, merkte sie es sofort.
An normalen Tagen musste jedes Zimmermädchen vierzehn Zimmer reinigen. Wenn man schnell war – und die neunzehnjährige Lucy sprühte nur so vor Energie –, konnte man »Pluspunkte« sammeln, indem man andere Zimmer übernahm. Das war bei Lucy oft der Fall. Sie machte ihre Arbeit gut und verwickelte die Gäste auf den Gängen nur selten in Gespräche. Lucy war stets höflich und bot mit dem dezenten Make-up, den kornblumenblauen Augen und dem karamellbraunen Haar einen hübschen Anblick. Die Arbeitskleidung passte der schlanken jungen Frau immer wie angegossen. Mehr als einmal hatte sie bemerkt, dass männliche Gäste ihr mit den Blicken folgten.
Obwohl die Arbeit nicht sehr anspruchsvoll war, musste man sich verdammt konzentrieren. Der Unterschied zwischen einem Hotel mit dreieinhalb Sternen und mit vier Sternen lag oft nur in der Einstellung und den Details.
Auf einige Dinge hatten die Angestellten keinerlei Einfluss. Dazu gehörten zum Beispiel die Qualität der Bettwäsche und der Handtücher und die Entscheidung, ob Mundwasser ins Badezimmer gestellt wurde oder nicht und ob es am Abend einen Zimmerservice gab, der das Aufdecken des Bettes einschloss. Andere Dinge hingegen fielen in die Verantwortung der Zimmermädchen.
Heute checkten die Teilnehmer einer dreitägigen Tagung im Hotel ein. Es handelte sich um eine Gruppe namens Société Poursuite. Wie Lucy es verstanden hatte, befassten sich diese Leute mit ungelösten Mordfällen, was sie als eine Art ausgefallenes Hobby betrieben. Sie hatten ein Drittel aller Zimmer gebucht, inklusive der gesamten zwölften Etage.
Lucy ging mit ihrem gesunden Menschenverstand davon aus, dass Société Society bedeutete, und sie hoffte nur, dass das andere Wort nicht Schwein hieß.
Als Lucy mit Zimmer 1212 fertig war, dachte sie über ihren Termin in der Mittagszeit nach.
Sie hatte in den letzten neun Jahren so viele sogenannte Fachleute kennengelernt, so viele Menschen, die zu wissen glaubten, was mit ihr nicht stimmte. Lucy hatte sogar an einem Pilotprojekt zur Regressionstherapie im Klinikum der University of Pennsylvania teilgenommen. Ihr fehlte das Geld für diese Therapie, doch nach drei Einzelgesprächen wurde ihr die Teilnahme bewilligt. Es lief nicht gut. Fünf Tage lang saß sie in einer aus acht Personen bestehenden Gruppe, die darüber sprachen, wie sie im früheren Leben von Attila, dem Hunnen, vergewaltigt worden waren oder mit Marie Antoinette gefüßelt oder den abgeschlagenen Kopf von Johannes dem Täufer geküsst hatten. Sie verstanden ihr Problem nicht richtig. Lucy hoffte, dass sie doch einmal jemanden fand, der es verstand.
Sie lernte dort aber ein paar nette Leute kennen. Den Mann, der gestorben und wieder ins Leben zurückgeholt worden war. Die Frau, die nach einem Schlag auf den Kopf drei Monate durch die Stadt irrte und nicht mehr wusste, wer sie war.
Lucy hatte auch einen Verhaltenstherapeuten aufgesucht – genau zehn Mal. Die Krankenversicherung ihres Arbeitgebers gestattete ihr, in einem Kalenderjahr zehn Mal zu einem Psychologen zu gehen. Sie musste den Eigenanteil von fünfundzwanzig Dollar bezahlen. Das Geld konnte sie so eben aufbringen.
Wenn sie Glück hatte, würde sich das alles heute ändern. Heute traf sie sich mit dem Traumweber.
Als Lucy eines Tages auf ihrem Putzwagen saß, fand sie seine Visitenkarte, die vermutlich ein Gast weggeworfen hatte. Aus irgendeinem Grund steckte sie die Karte in die Tasche und behielt sie. Vor einer Woche kam sie plötzlich auf die Idee, diese Nummer anrufen. Lucy führte ein kurzes Gespräch mit dem Mann, der ihr erklärte, was er genau machte.
Er sagte, er würde den Menschen helfen, ihre Träume zu erforschen, und behauptete, er könne sie von ihren Albträumen befreien. Heute Mittag hatte sie eine Verabredung mit ihm.
Lucy strich die Bettdecke glatt und warf einen prüfenden Blick ins Zimmer. Perfekt. Das Zimmer war fertig, sie jedoch nicht.
Sie ging zum Schrank, trat hinein, schloss die Tür und setzte sich hin. Dann nahm Lucy die Binde aus der Tasche, legte sie sich auf die Augen und knotete sie am Hinterkopf zusammen.
Leise brach die Dunkelheit über sie herein, und sie war froh darüber.
Das war seit neun Jahren so, seitdem die Erde unter Lucys Füßen gebebt und der Teufel ihre Hand genommen hatte. Drei Tage ihres Lebens waren ihr geraubt worden.
Während Lucy Doucette in dem Schrank saß und die Geister der Vergangenheit um sie herumwirbelten, betrat zwölf Stockwerke tiefer ein Mann die Hotelhalle.
Wie es bei vielen anderen auch der Fall war, die jetzt auf dem Weg zum Le Jardin waren, galt sein Interesse den krankhaften, dunklen Seiten der menschlichen Natur, den düsteren, Furcht erregenden Bereichen des psychopathischen Geistes. Besonders interessierte er sich für die Entführung und Ermordung junger Mädchen, für die Denkweise der Pädophilen.
Er hatte Zimmer 1208 gebucht. Dieses Zimmer hatte eine Geschichte, eine düstere Vergangenheit, die der Mann gut kannte.
Zimmer 1208 lag, wo sonst, im zwölften Stock. Lucinda Doucettes Etage.