10.
Jessica und Byrne trennten sich und verbrachten die nächste Stunde damit, selbst Befragungen in der Nachbarschaft durchzuführen. Sie erfuhren eine Menge über betrogene Ehefrauen, Hauseigentümer, die ihren Pflichten nicht nachkamen, Falschparker, mögliche internationale Drogenkartelle, Invasionen Außerirdischer, noch mehr Falschparker und – ein Lieblingsthema – Verschwörungen der Regierung. Mit anderen Worten, sie erfuhren nichts.
Um drei Uhr trafen Jessica und Byrne sich Ecke Fünfte und Federal und verglichen ihre Ergebnisse.
»Jess«, sagte Byrne und streckte den Arm aus.
Jessica schaute in die angegebene Richtung und sah zwei Gestalten auf einem unbebauten Grundstück zwischen zwei alten Reihenhäusern sitzen. Sie wurden beobachtet.
Jessica und Byrne liefen ein Stück die Federal hinunter. David Albrecht, der gerade Filmaufnahmen aus der Vogelperspektive von nahe gelegenen Dächern gemacht hatte, folgte ihnen, hielt aber Abstand.
Die beiden alten Männer saßen auf Gartenstühlen in der Nähe der Straße gegenüber dem Baseballplatz. Auf ihren Knien lagen Rennprogramme und die Sportteile des Inquirer von heute Morgen. Sie waren Ende siebzig und hatten ihre Stühle so hingestellt, dass sie beide sehen konnten, was in der Umgebung vor sich ging, und sich dabei gut unterhalten konnten. Jessica hatte das Gefühl, dass ihnen nicht viel entging.
Einer der Männer trug mindestens drei Strickjacken in verschiedenen Brauntönen. Der andere hatte einen Anglerhut mit einem Button auf, auf dem stand: Kiss Me I’m Italian, doch die meisten Buchstaben waren schon verblasst. Aus zwei Metern Entfernung konnte man nur noch Kiss It erkennen. Jessica fragte sich, ob das nicht vielleicht sogar beabsichtigt war. Sie zeigte den Männern ihre Dienstmarke und stellte sich und Kevin Byrne vor.
Als die beiden erfuhren, dass sie von der Polizei waren, setzten sie sich kerzengerade hin.
»Sind Sie jeden Tag hier?«, fragte Jessica.
»Jeden Morgen und jeden Nachmittag«, sagte der Mann mit den Strickjacken. »Bei Regen und bei Sonnenschein. Wenn es regnet, sitzen wir da hinten.« Er zeigte auf ein altes Geschäft mit einem Vordach aus Metall.
»Im Winter treffen wir uns im Mulroney’s«, fügte der Mann mit dem Anglerhut hinzu.
Mulroney’s war eine Kneipe hinter dem Spielplatz, eine Art Institution, die es schon seit der Truman-Regierung gab.
Jessica fragte die Männer, ob sie am Vortag irgendetwas gesehen hatten. Zuerst lieferten sie ihnen eine kurze Zusammenfassung der gestrigen Ereignisse. Ein Auslieferungswagen des Philadelphia Inquirer hatte einen Platten. Irgendein Idiot schrie seine Frau oder Freundin am Handy an und lief beinahe in die Autos auf der Federal Street hinein. Ein Hund klaute eines ihrer Lunchpakete, das unter ihrem Stuhl lag. Schließlich kamen sie zu dem, was sie am oder in der Nähe des Tatorthauses gesehen hatten.
Nichts.
»Sie haben niemanden gesehen, der sich verdächtig verhalten hat, niemanden, den Sie vorher noch nie in dieser Gegend gesehen haben?«, fragte Byrne.
»Nee«, erwiderte der Strickjackenmann. »Wir sind die einzigen verdächtigen Typen hier in der Gegend.«
Jessica notierte sich die mageren Informationen.
»Die Polizei war heute Morgen verdammt schnell da«, fügte er hinzu.
»Wir waren gerade in einem Donut-Laden gleich um die Ecke«, sagte Jessica. »Es lag auf dem Weg.«
Der Strickjackenmann lächelte. Er mochte sie.
»Nicht so wie beim letzten Mal«, warf der Mann mit dem Anglerhut ein.
Jessicas Blick wanderte zu Byrne und zurück zu dem Mann. »Wie bitte? Wie beim letzten Mal?«
»Ja. Die andere.«
»Die andere?«
»Die andere Leiche, die sie da gefunden haben.« Er zeigte auf das Tatorthaus und sagte das in einem Ton, als gehöre es zur Allgemeinbildung.
»In diesem Haus wurde schon einmal eine Leiche gefunden?«, fragte Jessica.
»Oh, ja«, sagte er. »Der Ort ist ein richtiger Schlachthof.«
Jessica wechselte wieder einen Blick mit Byrne. Es wurde von Minute zu Minute besser. Oder schlimmer. »Wann war denn das?«
»2002«, sagte der Mann mit dem Anglerhut. »Im Frühjahr 2002.«
»Nee«, widersprach der Strickjackenmann. »Es war 2004.«
Sein Kumpel sah ihn an, als hätte er gerade gesagt, der Papst sei eine Frau. »2004? Bist du betrunken? Es war 2002. Am 21. März. Mickey Quindlens Enkel hat sich den Arm auf dem Spielplatz gebrochen. Der Bruder meiner Frau kam aus Cinnaminson und rammte mit seinem Scheißauto unser Haus.« Er warf Jessica einen Blick zu. »Entschuldigen Sie meine krasse Ausdrucksweise.«
»Damit hab ich kein Problem«, sagte Jessica.
»Gegen Mittag kamen die Uniformierten. Die Anzugträger tauchten erst gegen Mitternacht auf. Ich glaube, das kann ich sagen, ohne Angst vor Konsequenzen haben zu müssen.«
Sein Kumpel nickte zustimmend.
»Uniformierte? Anzugträger?«, hakte Jessica nach. »Waren Sie früher bei der Polizei?«
»Polizei? Nee. Ich hab am Hafen gearbeitet. Einundvierzig Jahre. Ich schaue mir nur gerne Law & Order an. Der Typ mit den großen Zähnen redet ständig so.«
»Er ist jetzt tot«, sagte der Strickjackenmann.
Der Mann mit dem Anglerhut musterte seinen Kumpel. »Tatsächlich? Seit wann?«
»Schon lange.«
»In der Serie war er aber nicht tot.«
»Nein. In der Serie nicht, aber im richtigen Leben.«
»Verdammt.«
»Ja.«
Die Gruppe schwieg einen Augenblick respektvoll.
»Er war auch Hafenarbeiter«, sagte er und zeigte mit dem Daumen auf den Strickjackenmann. »Damals haben alle in unserer Gegend am Hafen gearbeitet. Alle. Von der Oregon Avenue bis zur South Street, Front Street, Third Street. Nicht wie heute. Jetzt wohnt ein Anwalt bei mir nebenan. Ein Anwalt. Das ist aus dem Viertel geworden.«
Jessica machte sich noch ein paar Notizen, während der Strickjackenmann Byrne intensiv musterte. »Sie kommen mir bekannt vor«, sagte er. »Haben Sie auch mal am Hafen gearbeitet?«
»Mein Vater«, erwiderte Byrne. »Fünfunddreißig Jahre.«
Der Alte schnippte mit den Fingern. »Paddy Byrne.«
Byrne nickte.
»Sie sehen genauso aus wie er.« Er drehte sich zu seinem Kumpel um. »Kanntest du Paddy?«
Der Mann mit dem Anglerhut schüttelte den Kopf.
»Dieser Typ war eine Legende am Pier 96.« Er wandte sich wieder Byrne zu. »Wie geht es ihm?«
»Gut«, sagte Byrne. »Danke der Nachfrage.«
»Und warum sind Sie nicht in seine Fußstapfen getreten und haben sich eine ehrenwerte Arbeit gesucht?«
»Der Hafen ist mir zu gefährlich«, erklärte Byrne ihm. »Mit Kleinkriminellen gebe ich mich nicht ab.«
Der Strickjackenmann lachte. »Ja. Sie sind Paddys Sohn.«
»Was können Sie mir noch über das andere Opfer sagen?«, fragte Jessica, um das Gespräch wieder auf ihr Thema zurückzulenken.
Beide Männer zuckten mit den Schultern. »Nicht viel, nur dass es eine Frau war«, sagte der eine. »Das Haus war viele Jahre verschlossen. Selbst der Besitzer konnte es nicht betreten. Er hat gesagt, er hätte Angst vor Geistern. Er hat es an einen Mann aus Pittsburgh verkauft, der es wieder an jemand anderen weiterverkauft hat.«
Jessica schaute sich um. »Welches Viertel ist das hier?«
»Einige sagen Queen Village, aber die haben keine Ahnung.«
»Und was sagen Sie?«
»Wir sagen Pennsport, weil hier Pennsport ist. Wir sind südlich von Washington, verdammt.«
»Hat ein Detective mit Ihnen über den Fall von 2002 gesprochen?«
»Nur mit mir«, erwiderte der Strickjackenmann.
»Erinnern Sie sich an den Namen des Detectives?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Er erinnert sich nicht einmal an die Namen seiner Kinder«, warf sein Kumpel ein. »Und er hat nur vier.«
»Kannten Sie das Opfer?«
»Nein. Ich hab aber gehört, es soll ein ganz steiler Zahn gewesen sein. Eine Schande ist das.«
Sich die Informationen zu beschaffen war kein Problem, aber vermutlich waren sie nicht relevant. Jessica bedankte sich bei den beiden Männern, schrieb sich ihre Namen, Adressen und Telefonnummern auf und gab ihnen ihre Karte mit der Bitte, sie anzurufen, falls ihnen noch etwas einfiel.
»Sie können jederzeit zu uns kommen«, sagte der Alte mit dem Anglerhut. »Wir haben immer Zeit, mit hübschen jungen Mädchen zu sprechen.«
Jessica lächelte. Hübsche junge Mädchen. Okay, sie würde gleich morgen wiederkommen.
Jessica und Byrne kehrten ins Roundhouse zurück, verglichen ihre Zeugenaussagen und hefteten sie in die Akte. Während sie auf den vorläufigen Bericht des Rechtsmediziners und auf die Ergebnisse der Spurensicherung warteten, wandten sie sich anderen wichtigen Dingen zu.
Beide Detectives arbeiteten noch an anderen Fällen. Die Ermittlungen waren ins Stocken geraten, und für einen Detective gab es kein schlimmeres Gefühl als die Angst, dass ihm ein Fall entglitt. Byrne telefonierte mit vier Zeugen, die er für die Verhandlung vor der Grand Jury im Robles-Fall brauchte, damit es mit der Sache irgendwie weiterging. Währenddessen suchte Jessica ein paar Adressen heraus und glich die Zeugenaussagen in einem anderen Fall ab.
Vor zwei Wochen hatten sie am Schauplatz eines Mordes im Drogenmilieu eine Waffe sichergestellt. Die Waffe konnte zu einer Frau namens Patricia Lentz, einer bekannten Drogenabhängigen und Prostituierten, zurückverfolgt werden.
Die Wohnung dieser Frau lag in der Neunzehnten Straße in der Nähe der Cecil B. Moore Avenue. Als Jessica und Byrne eintrafen, stand die Tür offen, der Fernseher lief mit voller Lautstärke, und auf dem Herd kochte etwas. Stinkender Rauch vernebelte das Erdgeschoss, in dem es aussah wie auf einer Müllhalde: verdreckte Matratzen, kaputte Möbel, leere Crackröhrchen und leere Schnapsflaschen.
Patricia Lentz lag im Keller bewusstlos unter einem Berg Kleidung. Zuerst befürchtete Jessica schon, sie hätte das Zeitliche gesegnet, doch die Frau war nur besinnungslos. Nachdem die Sanitäter sie wiederbelebt hatten, wurde sie ohne weiteren Zwischenfall in Gewahrsam genommen.
Während die Streifenbeamten die benommene Frau ins Roundhouse brachten, durchsuchten Byrne und Jessica die Wohnung. Jessica kannte den Schnitt dieser Reihenhäuser und wusste, dass im ersten Stock zwei Zimmer waren. Sie stieg die Treppe hinauf und schaute in das kleine Schlafzimmer und das Bad. Als sie das zweite Zimmer betrat, fiel ihr Blick sofort auf den großen Wandschrank. Vorsichtig öffnete sie die Tür.
Jessica erstarrte. Vor ihr auf dem Boden des Schrankes saß unter einem großen Plastikmüllsack, der mit stinkenden Abfällen so vollgestopft war, dass er beinahe platzte, ein kleiner Junge. Er war nicht älter als zwei Jahre. Ein dunkelhaariger kleiner Junge, der ein zerrissenes T-Shirt und eine Windel trug. Offenbar war er unter den Müllsack gekrochen, um sich zu wärmen.
Jessica hob den Jungen aus dem Schrank. Er zitterte vor Angst und bot in seiner schmutzigen Windel einen erbarmungswürdigen Anblick. Seine Arme und Beine waren mit Ausschlag bedeckt.
»Alles ist gut, kleiner Mann«, sagte Jessica. »Alles ist gut.«
Als Jessica das Haus verließ, entdeckte sie auf einem kleinen Tisch neben der Eingangstür einen Stapel Papiere. Es waren größtenteils unbezahlte Rechnungen, Werbeflyer von Pizzerien und chinesischen Schnell-Restaurants und Bescheide, dass Wasser, Strom oder Telefon abgestellt wurden. Auf dem Tisch lag auch das Foto eines Babys auf einem schmutzigen Betttuch. Jessica erkannte die Augen sofort wieder. Es war der kleine Junge, den sie in den Armen hielt. Sie drehte das Bild um. Dort stand: Carlos mit drei Monaten.
Der kleine Junge hieß Carlos.
Jessica nahm den Jungen mit ins Roundhouse. Ein Mitarbeiter des Jugendamtes würde ihn später abholen. Sie hatte unterwegs an einem Geschäft angehalten und Windeln, Pflegetücher, Körperlotion und Puder gekauft. Es war schon eine Weile her, dass sie Sophie wickeln musste, doch das war wie mit dem Radfahren: Man verlernte es nicht.
Nachdem Jessica Carlos’ Windel gewechselt hatte, saß der kleine Knirps sauber und gekämmt auf einem Stapel Telefonbücher an einem der Schreibtische. Sie hatten ihn mit einem leeren Munitionsgurt an den Stuhl gebunden. Jemand hatte irgendwo ein Kinder-Sweatshirt von den Philadelphia Eagles aufgetrieben. Da es etwas zu groß war, krempelten sie die Ärmel hoch und klebten sie behutsam mit Tesafilm an den Handgelenken des Jungen fest.
Die Mutter des Jungen, Patricia Lentz, musste sich auf eine Mordanklage gefasst machen, und eine Verurteilung war so gut wie sicher. Sie hatten die Mordwaffe, und die Ergebnisse der ballistischen Untersuchungen lagen vor. Patricia Lentz würde lange Zeit nicht zurückkehren. Wenn sie das Gefängnis eines Tages wieder verlassen durfte, würde Carlos selbst schon Kinder haben.
»Was passiert jetzt mit Carlos?«, fragte Byrne und holte Jessica in die Gegenwart und zu dem neuen Fall zurück.
Jessica atmete tief durch. Auf keinen Fall würde sie in diesem Raum, außer Wut, irgendwelche Gefühle zeigen – auch ihrem Partner gegenüber nicht, der sie besser kannte als jeder andere.
»Nichts«, sagte sie. »Sie haben Patricias Schwester bis jetzt nicht gefunden. Sie soll auch drogenabhängig sein, und zwar noch schlimmer als ihre Schwester.«
Es war kein Geheimnis – Kevin Byrne wusste es auf jeden Fall –, dass Jessica und Vincent seit zwei Jahren ein zweites Kind zu bekommen versuchten. Sophie war jetzt sieben Jahre alt, und je länger sie warteten, desto größer würde der Altersunterschied zwischen den Geschwistern sein. Davon rieten alle Ratgeber ab. Schon allein der Gedanke, die gewaltige Aufgabe auf sich zu nehmen und Carlos zu adoptieren, war natürlich lächerlich. Auf jeden Fall bei Licht betrachtet. Wenn Jessica mitten in der Nacht wach im Bett lag, schien alles möglich zu sein. Doch dann ging die Sonne wieder auf, und sie begriff, dass es niemals wahr würde.
»Wie geht es ihm?«, fragte Byrne.
»Gut, nehme ich an.« Jessica wusste nicht, ob das der Wahrheit entsprach, aber was sollte sie sonst sagen?
»Wenn du möchtest, können wir am Kinderheim vorbeifahren und nachsehen, wie es ihm geht.«
Je eher Jessica den Jungen losließ, desto besser. »Klar. Das wäre schön«, sagte sie dennoch.
Ehe sie weiter über den Jungen sprechen konnten, steckte Nicci Malone den Kopf in den Raum. »Kevin, da ist ein Anruf für dich.«
Byrne durchquerte das Büro, drückte auf die Taste und meldete sich. Kurz darauf zog er das Notizbuch aus der Tasche, schrieb etwas hinein und streckte die Faust in die Luft. Offenbar hatte er gute Nachrichten erhalten. Jessica konnte gute Nachrichten gebrauchen.
Byrne legte auf und griff nach seiner Jacke. »Das war die Kriminaltechnik. Sie haben die Fingerabdrücke überprüft.«
»Sind sie im System?«, fragte Jessica.
»Ja, sind sie. Unser glatt rasierter toter Mann hat einen Namen. Kenneth Arnold Beckman.«